„So gut wie das eigene Auto“ – Thorsten Försterling im Interview über sein Herzensprojekt MONOCAB
Wenn schon keine Züge mehr aufs Land fahren, dann fahren dort eben zukünftig MONOCABs −mit dieser Vision sieht Thorsten Försterling die Mobilitätsgerechtigkeit zwischen Stadt und Land in greifbare Nähe gerückt. Mit seiner Idee von einem bedarfsgerechten und autonomen Fahrzeugkonzept sollen stillgelegte, vermeintlich unwirtschaftliche eingleisige Bahnstrecken wieder für eine zeitgemäße, individuelle Mobilität genutzt werden können. Mehrere Forschungsinstitutionen und Hochschulen aus der Region Ostwestfalen-Lippe (OWL) sind an der Realisierung dieses Beförderungssystems für Menschen und Waren im ländlichen Raum beteiligt.
HOLM-Blog: Herr Försterling, 2016 hatten Sie die Idee zum MONOCAB. Wie sind Sie darauf gekommen und wie haben Sie so schnell Mitstreitende gefunden?
Thorsten Försterling: Auslöser war die drohende Stilllegung der Begatalbahn [1], die vom Verein Landeseisenbahn Lippe genutzt und mit großem ehrenamtlichen Engagement unterhalten wurde. Am Anfang stand die Frage, wie die Strecke nicht nur erhalten, sondern − im Sinne des Gemeinwohls − auch mit öffentlichen Mitteln reaktiviert werden kann. Eine Lösung musste so gut wie das eigene Auto sein, um damit auf dem Land konkurrieren zu können, und sie musste der Daseinsvorsorge dienen. Es ging dabei auch um die Wertschätzung des ländlichen Raums, um dessen Leistungen für den urbanen Raum, also im Grunde um gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land.
Das Projekt entstand in mehreren Schritten aus der ehrenamtlichen Arbeit vieler. Da war die Idee eines rollenden Jugendzentrums, aus der sich das Projekt „Jugend unter Dampf“ entwickelte. Daraus wiederum entstand der Kontakt zu den „Eisenbahnern“ und insbesondere zu Jochen Brunsiek, was in intensiver gemeinsamer Arbeit zum Projektportfolio „Smart Railway OWL“ führte. Die ursprüngliche Idee einer kreiselstabilisierten Einschienenbahn lässt sich auf den Erfinder Louis Brennan zurückführen. Er entwickelte 1909 ein solches Fahrzeug als Prototyp.
Seine Idee wurde lediglich erneuert und ihre Umsetzung 2021 schließlich zum Forschungsvorhaben MONOCAB OWL institutionalisiert. Dem vorausgegangen war ein erster Kontakt mit der Technischen Hochschule OWL, der im Rahmen der REGIONALE 2022 entstand. Unter Beteiligung verschiedener Forschungsinstitute der Region Ostwestfalen-Lippe und mit Fördermitteln des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) und der Europäischen Union soll ein öffentliches Fortbewegungsmittel für die Zukunft auf die Schiene gebracht werden, das eine nachhaltige und individuelle Mobilität in ländlichen Regionen ermöglichen kann. Und nicht zuletzt ist es auch ein Projekt zur Regionalförderung und zur Förderung des Investitionsstandortes NRW.
HOLM-Blog: Wie funktioniert Mobilität per MONOCAB und worin liegen seine Chancen?
Thorsten Försterling: Rein technisch sind MONOCABs kompakte, schmale Kabinen, die sich autonom und elektrisch angetrieben auf nur einer Schiene fortbewegen. Ein Kreiselsystem sorgt dafür, dass das Gleichgewicht des Fahrzeugs während der Fahrt ausbalanciert wird. Das bedeutet nämlich einen großen Vorteil: Auf eingleisigen Bahnstrecken könnten zwei MONOCABs gleichzeitig in beide Richtungen rollen. Das prädestiniert dieses Verkehrsmittel für den Einsatz auf vorhandenen oder reaktivierten Bahnstrecken, vor allem im ländlichen Raum.
Verschiedene Betriebsszenarien zwischen „on demand" und „festen Intervallen" sind denkbar. Per App lassen sich Fahrten individuell buchen oder Zusteigemöglichkeiten anzeigen. MONOCAB ist ein Paradebeispiel für den sogenannten IPNV, den individuellen Personennahverkehr, als Ergänzung zum bestehenden öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und zum Auto. Das macht Menschen auf dem Land mobiler und unabhängiger.
HOLM-Blog: Stichwort: Reaktivierung von Schieneninfrastruktur. Wie viel Potenzial gibt es in Deutschland?
Thorsten Försterling: In Deutschland gibt es derzeit ca. 6.000 Kilometer stillgelegte Eisenbahnstrecken. Wir schätzen, dass etwa die Hälfte dieser Strecken, also rund 3.000 Kilometer, für eine Reaktivierung mit MONOCABs in Frage kommen. Diese Strecken sind nicht für eine Reaktivierung mit herkömmlichen Eisenbahnen vorgesehen und bieten daher ein großes Potenzial für alternative Nutzungskonzepte. Zusätzlich gibt es auch im Ausland ein großes Interesse an den MONOCABs, etwa in Indien oder den USA. Neben der Begeisterung für die Technik spielt dabei immer auch die Nutzung vorhandener Infrastruktur eine Rolle. Aber auch auf anderen Strecken gibt es Einsatzmöglichkeiten für MONOCABs, etwa für neu errichtete Quartiersbahnen, Werksverkehre sowie für Materialtransporte und zur Personenbeförderung im Tunnel- und Gleisbau.
HOLM-Blog: Und wer würde die Kosten für eine Reaktivierung übernehmen müssen?
Thorsten Försterling: Die Kosten einer Reaktivierung müssten voraussichtlich von verschiedenen Akteuren getragen werden. Dazu gehören öffentliche Mittel, die von Bund, Ländern und Kommunen bereitgestellt werden, aber auch private Investitionen. Die genaue Finanzierung hängt von den konkreten Projekten und den beteiligten Partnern ab. Öffentliche Förderungen und Zuschüsse sind jedoch oft entscheidend für die Realisierung solcher Infrastrukturprojekte.
Für den ländlichen Raum ist aber auch eine „Gemeinwohl-Rendite“ zu erwarten. Die Reaktivierung führt zu einer veränderten Wahrnehmung, Wertschätzung und Erreichbarkeit der eher ländlich geprägten Regionen. Der Einsatz innovativer Verkehrsmittel wie MONOCABs trägt zur Attraktivitätssteigerung des ÖPNV bei und unterstützt die Vision, auch auf dem Land ohne eigenes Auto leben und arbeiten zu können. Dies ist ein wesentlicher Teil der Verkehrswende.
HOLM-Blog: Wie viele Menschen können mit MONOCABs befördert werden?
Thorsten Försterling: Im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln liegt die Beförderungskapazität von MONOCABs im unteren Bereich. Die Kapazität hängt von der Frequenz, der Taktung und den eingesetzten Fahrzeugen ab, und variiert je nach Auslastung und Streckenführung. Ein MONOCAB kann auch einzeln gebucht werden, was die Flexibilität und die Attraktivität erhöht, aber gleichzeitig zu einer geringeren Zahl von Fahrgästen führt. Das Verkehrsmittel ist jedoch nicht primär auf hohe Kapazitäten ausgelegt, sondern auf die Bereitstellung eines flexiblen, bedarfsgerechten und individuellen Verkehrsmittels, das sich an den Bedürfnissen der Fahrgäste orientiert. Insbesondere in Schwachlastzeiten kann es eine wertvolle Ergänzung zum klassischen ÖPNV darstellen, indem es Lücken schließt und den ÖPNV effizienter und attraktiver macht.
HOLM-Blog: Sie sprachen vorhin in einem Nebensatz auch über Materialtransporte. Können MONOCABs tatsächlich auch eine Logistiklösung für den Güter- und Warentransport sein?
Thorsten Försterling: Ja, sie eignen sich insbesondere für den Transport von Stückgut und regionalen Produkten. In Kombination mit autonomen Paketrobotern und Packstationen könnten MONOCABs der mobilen Versorgung im ländlichen Raum dienen. Dies würde die Effizienz von Lieferketten erhöhen und die Erreichbarkeit abgelegener Gebiete verbessern.
HOLM-Blog: Am Forschungsverbund zu MONOCAB sind eine Reihe von wissenschaftlichen Institutionen aus der Region OWL beteiligt. Wie sind die Aufgaben verteilt?
Thorsten Försterling: Das Forschungsprojekt MONOCAB ist ein Verbund der Technischen Hochschule OWL, der Fachhochschule Bielefeld und des Fraunhofer IOSB-INA, die als Projektpartner für die technische Entwicklung zuständig sind. Unter der Gesamtprojektleitung von Professor Dr.-Ing. Thomas Schulte besteht die aktuelle Herausforderung darin, den Nachweis zu erbringen, dass solche Schienenfahrzeuge sicher, zuverlässig und wirtschaftlich realisierbar sind.
Die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe agiert als Konsortialführer des Projekts und arbeitet mit bis zu sechs Beschäftigten interdisziplinär in den Bereichen Konstruktion, Aerodynamik, Regelungstechnik, Simulation, Antriebstechnik, Leistungselektronik und Steuerungssoftware. Die aktive Einbindung von Studierenden in zahlreichen Teilbereichen ermöglicht praxisnahe Erfahrungen und fördert deren wissenschaftliche Entwicklung. Darüber hinaus sind das Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) sowie ein Lehrgebiet des Studiengangs Innenarchitektur der TH OWL an dem Projekt beteiligt. Ohne dieses Netzwerk und die vielen hochqualifizierten Kolleginnen und Kollegen wäre MONOCAB nur eine Idee geblieben.
HOLM-Blog: MONOCAB ist ein angewandtes Forschungsprojekt. Was wurde beim Forschungsprojekt schon erreicht? Und wie wird es weitergehen?
Thorsten Försterling: Derzeit läuft bereits die Fortführung der Entwicklung des Tech-Demonstrators bis hin zu einem Prototypen. Entlang der Roadmap stehen neun Meilensteine, neun technische Reifegrade oder englisch: Technology Readiness Level (TRL). Aktuell hat das Projekt TRL 5 erreicht: den Versuchsaufbau in Einsatzumgebung. Die Entwicklung läuft also nach Plan – der Testbetrieb der Versuchsfahrzeuge im Extertal kann starten. 2028 soll TRL 9 erreicht werden: der erfolgreiche Einsatz des Systems.
Im Rahmen des nächsten Projektschritts erfolgt eine Weiterentwicklung der Vertikalstabilisierung hinsichtlich Sicherheit und Redundanz des Fahrwerks für das Durchfahren enger Bögen, der Bremswirkung, des Komforts sowie der Durchfahrt von Weichen. Zudem werden Verfahren zur Positions- und Abstandserkennung untersucht. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, aber es ist großartig zu sehen, dass wir so weit gekommen sind und wie im ländlichen Raum die Zukunft gestaltet werden kann.
HOLM-Blog: MONOCAB ist ein autonom fahrendes Verkehrsmittel. Wie ist die künftige Akzeptanz für die Nutzung zu bewerten?
Thorsten Försterling: Unsere Innovation ist nur dann erfolgreich, wenn sie von den Menschen akzeptiert und genutzt wird. Durch die effiziente Nutzung bestehender Infrastrukturen ist das System ressourcenschonend und nachhaltig, wichtige Faktoren auch im Hinblick auf die Akzeptanz eines solchen Angebots. Die Resonanz auf MONOCAB ist jedenfalls sehr vielversprechend. Viele bringen eigene Wünsche ein, definieren neue Anwendungsbereiche und setzen sich intensiv mit dem Konzept auseinander. Und auch die internationalen Anfragen stimmen uns zuversichtlich.
Es wäre zu wünschen, dass wir die Entwicklung und Vermarktung schneller vorantreiben als ursprünglich geplant. Dafür brauchen wir aber Zeit, finanzielle Mittel und Unterstützung im Zulassungs- und Genehmigungsprozess. An dem Erfolg, den wir jetzt schon haben, sind viele beteiligt. Deren Begeisterung und Unterstützung, auch aus Politik und Verwaltung, helfen uns, MONOCAB auf die Schiene zu bringen.
HOLM-Blog: Wenn Sie in Bezug auf MONOCAB einen Wunsch frei hätten, der in Erfüllung geht, welcher wäre das?
Thorsten Försterling: Es muss deutlich schneller gehen. Wenn ich mir für MONOCAB etwas wünschen dürfte, dann wäre es eine beschleunigte und modernisierte Genehmigungspraxis und eine passende „Experimentierklausel“. Eine solche Klausel würde es uns erlauben, die gesamte Bandbreite der vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um die MONOCAB-Idee sicher zu gestalten, zu testen und in die Praxis umzusetzen. Mehr Mut zur Veränderung und das Aufbrechen von Silodenken sind notwendig, um innovative Mobilitätslösungen wie MONOCABs erfolgreich in den ÖPNV zu integrieren.
Der individuelle Personennahverkehr mit MONOCABs stellt eine bedeutsame soziale Intervention dar, der auf spezifische Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung eingeht und deren Lebensqualität verbessert. Die Bereitstellung eines flexiblen und zuverlässigen Beförderungssystems erhöht die Mobilität der Menschen, wodurch ihnen ein besserer Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen und medizinischen Dienstleistungen ermöglicht wird. Dies fördert die soziale Teilhabe und verhindert die Isolation ländlicher Gemeinden. Gleichzeitig trägt das MONOCAB-System zur Mobilitätsgerechtigkeit bei, indem es eine gleichwertige Verkehrsinfrastruktur schafft, die den urbanen Standards nahekommt.
HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.
Anmerkung
[1] Die Begatalbahn ist das Teilstück Lemgo–Barntrup einer heute stillgelegten eingleisigen Bahnstrecke, die durch das Extertal führt und ursprünglich die Städte Bielefeld und Hameln verband.