Anne Rückschloß ist seit 2016 Geschäftsbereichsleiterin Organisation bei der Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main (VGF). Seit 2019 ist sie zudem als ehrenamtliche Managerin bei dem Netzwerk „Women in Mobility" tätig und setzt sich in dieser Funktion für mehr Einfluss von Frauen in der Branche und eine gerechtere Mobilitätsgestaltung ein.

Im Interview haben wir mit der gebürtigen Nastätterin, die selbst überwiegend zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, über den Gestaltungseinfluss von Frauen in der Mobilitätsbranche, eine genderneutrale Mobilitätsplanung, die ganzheitliche Betrachtung von Mobilitätsbedürfnissen und die Notwendigkeit einer diversen Besetzung von Entscheidungsfunktionen gesprochen.  

 HOLM-Blog: Das 2015 gegründete Netzwerk „Women in Mobility“ (WiM) engagiert sich für eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Mobilitätsbranche. Seit 2019 setzen Sie sich als Managerin für den WiM-Hub Frankfurt ein. Was hat Sie zu Ihrem Engagement bewogen?

Anne Rückschloß: Mit meinem Wechsel in die Mobilitätsbranche 2016 habe ich sehr schnell festgestellt, dass man als Frau, gerade in einer Führungsposition, häufig in der Minderheit oder allein ist. WiM ermöglichte mir einen fachlichen und persönlichen Austausch und ein Netzwerk über das Unternehmen hinaus. Da mir die Gleichberechtigung von Männern und Frauen außerdem schon immer am Herzen liegt, kann ich mit meinem Engagement bei WiM dazu beitragen, dass Frauen in der Branche sichtbarer werden, mehr Gestaltungseinfluss erhalten und Mobilität nachhaltiger, inklusiver und gerechter wird.

Als Geschäftsbereichsleiterin Organisation bei der VGF strebt Anne Rückschloß gemeinsam mit ihrem Team eine stetige Verbesserung der Leistungsfähigkeit der VGF an, beispielsweise durch die Weiterentwicklung von (IT-)Systemen, Prozessen, Strukturen und Regelwerken. Außerdem unterstützt der Bereich die Kolleg*innen und Bereiche in Entwicklungs- und Veränderungssituationen. Privat geht die Mobilitätsspezialistin gerne Schwimmen, in Museen oder unternimmt Ausflüge mit ihrer Familie in der Region. Bild: VGF

HOLM-Blog: Was zeichnet die Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main beim Thema Frauen in der Mobilitätsbranche besonders aus?

Anne Rückschloß: Die Region ist aufgrund ihrer verkehrsgünstigen geographischen Lage ein Verkehrsknotenpunkt. Als Messestadt, Finanz- und Handelszentrum ist es essenziell, dass die Menschen, die hier leben und arbeiten, die beruflich oder privat die Region besuchen, mobil sind und ihr Ziel schnell, bequem und barrierefrei erreichen. Diese Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass Mobilität für alle in der Region ein zentrales Thema ist und es eine Vielzahl an Mobilitätseinrichtungen gibt. Dieses Potential wird – sowohl bezogen auf Mobilitätslösungen als auch auf eine gleichberechtigte Repräsentation und die Gestaltungsmöglichkeit von Frauen – heute noch nicht ausgeschöpft. Ob im Fachbereich Neue Mobilität an der Frankfurt University of Applied Sciences oder in einem der größten Verkehrsverbünde Deutschlands, der Anteil von Frauen ist steigerungsfähig. Immerhin gibt es bei der VGF in Frankfurt erstmals seit ihrem Bestehen mit Kerstin Jerchel seit Mai 2023 eine Frau als Arbeitsdirektorin und Geschäftsführerin an der Spitze. Auch gibt es in der Region viele Projekte mit neuen Mobilitätslösungen wie Fahrradstraßen, Mobilitätshubs und einem veränderten Mobilitätsverständnis wie eine gewachsene Bedeutung von Mobilitätsbudgets in Unternehmen. Es tut sich also etwas, allerdings ist in der Region und darüber hinaus noch Luft nach oben.

HOLM-Blog: Wie bewerten Sie die Entwicklungen im Bezug auf Sichtbarkeit, Repräsentanz und Chancengleichheit von Frauen innerhalb der Mobilitätsbranche in den vergangenen Jahren?

Anne Rückschloß: Das Bild ist aus meiner Sicht gemischt: Einerseits gibt es in der Branche inzwischen mehr Frauen auf allen Ebenen, die auch durch Netzwerke wie WiM eine große Sichtbarkeit haben und für andere ein Vorbild sind. Andererseits braucht es weiterhin in Unternehmen, in der Wissenschaft und der Politik mehr Frauen – und mehr Frauen in Führungs- und Entscheidungsfunktionen. Denn schaut man auf die Zahlen, so beträgt der Anteil von Frauen in der Privatwirtschaft im Mobilitätsbereich gerade mal 20 Prozent der Beschäftigten und auf der ersten Führungsebene sind es nur 18 Prozent. Im öffentlichen Bereich sieht es nicht viel besser aus: Auf der dritten Führungsebene sind es 21 und auf der zweiten Führungsebene rund 20 Prozent Frauen. Nur sechs von 16 Verkehrsministerien werden von einer Frau geführt und auf Bundesebene gab es noch nie eine Verkehrsministerin. Auch in der Wissenschaft sind Frauen deutlich unterrepräsentiert. An der Technischen Universität Dresden zum Beispiel sind im renommierten Studiengang Verkehrswirtschaft Professorinnen deutlich unterrepräsentiert. Hier besteht also Handlungsbedarf!

Busfahrerin lächelt in die Kamera
Laut EU-Kommission lag der Frauenanteil im europäischen Verkehrs- und Transportsektor im Jahr 2019 bei 22 Prozent. Start-ups wurden in diesem Bereich nur zu 20 Prozent von Frauen gegründet (Quelle: Bundesministerium für Digitales und Verkehr, Netzwerkevent der Women for Datadriven Mobility vom 28.6.2023). Bild: Shutterstock.com/Drazen Zigic

HOLM-Blog: Beschäftigte im ÖPNV-Fahrdienst sind mehrheitlich männlich. Was wird getan, um den Beruf für Frauen attraktiver zu gestalten? Sind Frauen vor dem Hintergrund eines drohenden Fahrer*innenmangels im Nahverkehr in den kommenden Jahren gerade jetzt eine wichtige Zielgruppe?

Anne Rückschloß: In jedem Fall sind Frauen sowohl vor dem Hintergrund des demographischen Wandels als auch dem Fachkräftemangel eine wichtige Zielgruppe. Um Frauen als Fahrerinnen zu gewinnen, braucht es gute Rahmenbedingungen: Das beginnt bei ganz basalen Themen wie der Ausstattung mit Toiletten für alle Geschlechter, geht weiter über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – beispielweise durch verschiedene Arbeitszeitmodelle – bis hin zur Frage, ob eine Ausbildung in Teilzeit durchgeführt werden kann.

Darüber hinaus braucht es eine moderne Unternehmenskultur und sichtbare Vorbilder, die Frauen dazu ermutigen, diesen vermeintlich männlichen Beruf zu ergreifen. Hier ist nicht nur die Branche, sondern die Gesellschaft gefragt, denn auch gute Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und eine faire Aufteilung der Care-Arbeit, also ein Kulturwandel, sind wichtige Bausteine. Von solchen Maßnahmen würden sicher alle profitieren und sie würden den Job attraktiver machen.

HOLM-Blog: Ihr Netzwerk setzt sich auch dafür ein, dass Mobilität zukünftig genderneutral wird. Wo ist Ihrer Meinung nach am deutlichsten sichtbar, dass bei diesem Thema derzeit noch ein großes Defizit besteht, und welche Auswirkungen hat dies ganz konkret?

Anne Rückschloß: Mobilitätsplanung erfolgt derzeit zum großen Teil orientiert an dem Mobilitätsverhalten von Männern im mittleren Alter, die einfache Pendelstrecken mit dem Auto zurücklegen, Vollzeit arbeiten und weitgehend frei von Care-Arbeit sind. Die Perspektiven und Bedürfnisse, die sich aus unterschiedlichen Lebensphasen, dem Alter, körperlichen und geistigen Einschränkungen sowie der Übernahme von Versorgungsarbeit ergeben, bleiben zu oft unberücksichtigt. Eine genderneutrale Betrachtung oder feministische Mobilitätswende bezieht alle ein. Neu ist, dass beim Thema Datenerhebung Daten zur Verkehrsmittelwahl, zum Wegeverhalten und so weiter genderspezifisch erfasst werden und damit Mobilitätsmuster von Frauen Berücksichtigung finden [Anm. der Redaktion: Weitere Infos zum Thema im Glossarbeitrag „Gender (Mobility) Data Gap“].

HOLM-Blog: Welche zeitnahen Entwicklungen und Veränderungen würden Sie sich rund um den Bereich „Female Mobility“ am dringlichsten wünschen?

Anne Rückschloß: Als Netzwerk geht es für uns um mehr als „Female Mobility“, wir wünschen uns, dass Mobilitätsbedürfnisse ganzheitlich betrachtet werden. Ganzheitlich heißt: unabhängig von Geschlechtsidentität, Herkunft, Religion, Alter, geistiger und körperlicher Einschränkung oder sexueller Orientierung. Auch unterschiedliche Lebensphasen, Rollen oder lebensprägende Umstände sollten in die Gestaltung einer gerechteren Mobilität mit einfließen, damit alle gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Dabei sollte besonders auf die Zugänglichkeit und Nachhaltigkeit geachtet werden. Barrierefrei gestalteter öffentlicher Raum wie auch Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsangebote erleichtern den Zugang für alle Bürger*innen. Unser Ziel ist es, die Infrastruktur und den Raum für den Fuß- und Radverkehr sowie den öffentlichen Personennahverkehr auszubauen, um die Attraktivität dieser Fortbewegungsmittel zu erhöhen und den motorisierten Individualverkehr zugunsten des Klimas zu reduzieren. Öffentliche Verkehrsmittel müssen sowohl barrierefrei als auch finanziell erschwinglich sein und alle Verkehrsträger optimal miteinander verknüpft sein, so dass Wegeketten optimal gestaltet werden können.

Ein weiterer Aspekt ist die Sicherheit aller: Frauen, die LGBTQ+-Community, körperlich bzw. geistig eingeschränkte Personen und Menschen mit internationaler Geschichte – alle, die häufig von Belästigung, Übergriffen und Gewalt im öffentlichen Raum betroffen sind. Daher müssen Maßnahmen ergriffen werden, die den Schutz und die Sicherheit aller Personen gewährleisten, denn Sicherheit ist ein universelles Bedürfnis. Dazu gehören unter anderem gut beleuchtete Straßen, Wege und Haltestellen, ausgebildetes Sicherheitspersonal und der verstärkte Einsatz von Videoüberwachung und Notrufsystemen.

Um diese Ziele zu erreichen, ist die oben angesprochene gleichberechtigte Repräsentation und Gestaltungsmöglichkeit von Frauen und eine möglichst diverse Besetzung von Entscheidungsfunktionen eine Voraussetzung.

Drei weibliche Jugendliche fahren mit dem Bus und lachen
Frauen fühlen sich im öffentlichen Raum und im ÖPNV öfter unsicher. Sie befürworten daher auch eher vermehrte Kontrollen und Sicherheitspersonal im öffentlichen Verkehr. Damit Frauen sich sicher fühlen, ist auch die letzte Meile wichtig, d. h. der Fußweg von der U-Bahn-Station nach Hause (Quelle: Women in Mobility / Female Mobility). Bild: Shutterstock.com/Zamrznutitonovi

HOLM-Blog: Welchen persönlichen Ratschlag würden Sie Frauen geben, die in der Mobilitätsbranche Fuß fassen möchten oder eine Karriere anstreben?

Anne Rückschloß: Zunächst möchte ich betonten, dass eine Tätigkeit in der Branche insbesondere aktuell sehr spannend ist, da es viele Gestaltungsmöglichkeiten gibt, eine große Dynamik herrscht und man außerdem einen sinnstiftenden Beitrag zur Daseinsvorsorge und Nachhaltigkeit leisten kann. Mein Tipp: Bringt euch ein, nutzt Netzwerke wie WiM und deren Veranstaltungen, knüpft Kontakte auch über Social Media, baut euch ein persönliches Netzwerk auf, sucht eine Mentorin oder einen Mentor, z. B. über MentorMe, und gestaltet die Mobilität mit. Ihr werdet gebraucht und seid herzlich willkommen!

 

Viele Dank für das Gespräch.