Mobilität bedeutet selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Bildung, Arbeit und Freizeit − auch für Personen mit kognitiver Beeinträchtigung. Dr. Markus Wolf spricht im Interview über das Angebot „MobiLe“. Die Webseite stellt kostenlos Schulungsmaterialien zur Verfügung, mit deren Hilfe Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen durch pädagogische Unterstützung lernen können, sicher am Straßenverkehr inklusive ÖPNV teilzunehmen. Aber es gilt nach seiner Ansicht auch, strukturelle Barrieren und Komplexität zu verringern, damit alle leichter von A nach B kommen können.

Dr. Markus Wolf forscht und lehrt am Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der ausgebildete Heil- und Sonderpädagoge M.A. ist seit vielen Jahren mit der Zielgruppe und der Praxis eng verbunden. Seit 2016 beschäftigt er sich mit der Konzeption der Mobilitätsbildung bei kognitiver Beeinträchtigung und der Erstellung entsprechender Arbeits- und Schulungsmaterialien, die auch auf der Website MobiLe veröffentlicht wurden. Bild: Andrea Wolf

HOLM-Blog: Herr Dr. Wolf, Sie erforschen, wie sich die Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen am Straßenverkehr und ÖPNV durch Mobilitätsbildung verbessern lässt. In welchem Umfang nehmen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen [1] am Straßenverkehr und ÖPNV teil? 

Dr. Markus Wolf: Generell ist immer noch von einer eher eingeschränkten „eigenständigen“ Mobilität auszugehen. Das begründet sich auch darin, dass viele Personen mit kognitiver Beeinträchtigung institutionell eingebunden sind. Dazu zählen etwa Förderschulen, Werkstätten und Wohnheime. Daher greifen sie häufig auf private oder von den Einrichtungen organisierte Fahrdienste zurück oder auf andere Angebote im Bereich der Freizeitbegleitung. Insbesondere Erwachsene können dadurch ein „Übermaß“ an fürsorglicher Hilfe erfahren und sind von Begleitpersonen abhängig. Das führt zu weniger Unabhängigkeit, zu Einschränkungen bei der Teilhabe und zu einer geringeren Inklusion im Sozialraum.

Personen mit kognitiver Beeinträchtigung verfügen generell über weniger umfangreiche „Mobilitätskompetenzen“. Auch das erschwert ihnen eine selbstständige Teilhabe am Straßenverkehr und insbesondere am ÖPNV. Die Personengruppe ist aber sehr heterogen, und so variiert auch das Ausmaß an eigenständiger Mobilität. Darüber, in welchem Umfang Personen mit kognitiver Beeinträchtigung am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen, lässt sich aus Mangel an empirischen Erkenntnissen wenig sagen. Zu Sozialraumanalysen inklusive Verkehrsverhalten, Sozialfunktion oder Barrieren liegen bislang so gut wie keine spezifischen Daten vor. 

HOLM-Blog: Legt der Personenkreis auch unbegleitet größere Strecken zurück? Welche Verkehrsmittel nutzen sie dabei?

Dr. Markus Wolf: In der Praxis und bei der Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zeigt sich, dass auch sie im Straßenverkehr persönlich unterwegs sind. Besonders in der Freizeit greifen sie auf das Fahrrad zurück, sie fahren mit Bus und Bahn zur Arbeit oder zu sogenannten Berufsvorbereitenden Einrichtungen, sie gehen selbstverständlich zu Fuß einkaufen oder besuchen Verwandte oder eine Freizeiteinrichtung. Das sind keine neuen Erfahrungswerte.

Bild: Anja Limbrunner

HOLM-Blog: Bereits im Grundschulalter üben Kinder den sicheren Schulweg oder das Überqueren eines Zebrastreifens. Welche Kompetenzen muss ein Mensch besitzen, um sich sicher im Straßenverkehr sicher fortbewegen zu können?

Dr. Markus Wolf: Es sind unterschiedliche Kompetenzen notwendig, um beispielsweise in einer Stadt sicher und selbstständig von A nach B zu kommen. Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Reaktion sind gefordert. Solche mobilitätsspezifischen Kompetenzen werden in der Regel bereits im Kindesalter gelernt und gefestigt, durch Schulung und Übung in der realen Situation im Straßenverkehr. Zentrale Faktoren sind: bewusste Einstellungen, Handlungen in Selbstreflexion, Perspektivenübernahme und Gefahrenbewusstsein. Dabei geht es insbesondere darum, Gefahren, die von Verkehrsmitteln oder anderen Verkehrsteilnehmenden ausgehen, gedanklich vorwegzunehmen und sich situationsentsprechend gefahrenbewusst, also defensiv zu verhalten. 

HOLM-Blog: Was sind typische Herausforderungen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im täglichen Straßenverkehr und bei der Nutzung des ÖPNV und wo gibt es dringenden Handlungsbedarf? 

Dr. Markus Wolf: Die Herausforderungen ergeben sich häufig schon aus strukturellen Barrieren der Mobilitätsumwelt. Dies betrifft die Komplexität des Straßenverkehrs und des ÖPNV. Insbesondere im Bereich visueller und akustischer Verkehrs- und Fahrgastinformationen besteht ein hoher Handlungsbedarf. Informationen sollten klar erkenntlich, wiederholend und einheitlich sein. Klar hervorgehobene Piktogramme oder Abbildungen mit wiedererkennbaren mit Figuren und Farben können hierbei schon helfen. Individuelle Herausforderungen entstehen aber auch durch unzureichende Kompetenzen wie Schwierigkeiten bei der Orientierung oder Unsicherheiten, die etwa bei unerwarteten Zwischenfällen oder Verspätungen entstehen können. Persönliche Schwierigkeiten resultieren aber auch aus negativen Einstellungen anderer, mangelndem Zeitmanagement und Planungsschwierigkeiten, fehlender Aufklärung und Informationen, etwa von Abfahrts- und Ankunftszeiten.

HOLM-Blog: Welchen Stellenwert hat Mobilität für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen? 

Dr. Markus Wolf: Mobilität ermöglicht Autonomie, wie sie sich auch Personen mit kognitiver Beeinträchtigung wünschen. Sie möchten räumlich ungebunden, zeitlich flexibler sein und sozial teilhaben können – wie alle anderen. Sie wollen mobil sein, um ihren Aktionsradius zu vergrößern und um Freizeitaktivitäten nachzugehen, sie möchten sich bei der Nutzung des ÖPNV routinierter und sicherer fühlen sowie Selbstbestimmung und Freude erfahren. Das verdeutlichen mir immer wieder die persönlichen Rückmeldungen in diesem Zusammenhang. Allein Einkäufe erledigen, eine Freundin besuchen, selbst zur Arbeit fahren – eben diese alltäglichen Dinge sind von enormer Bedeutung. Und aus verschiedenen Praxisprojekten aus der Mobilitätsschulung wissen wir, dass Personen mit kognitiver Beeinträchtigung, die auf ihrer Wegstrecke von einer Begleitperson geschult und unterstützt werden, wichtige Fähigkeiten im Straßenverkehr erlernen können.

Bild: Anja Limbrunner

HOLM-Blog: Die Website MobiLe stellt Unterlagen und Informationen zur Schulung zur Verfügung. An wen richtet sich das Angebot? Auf welche Weise können Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen lernen, im Straßenverkehr und mit dem ÖPNV zurecht zu kommen? 

Dr. Markus Wolf: Das Angebot richtet sich vornehmlich an pädagogische Fachkräfte, aber durchaus auch an Angehörige von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.

Ganz konkret lernen Personen mit kognitiver Beeinträchtigung, indem eine persönliche Wegstrecke zu Fuß oder mit dem Bus geübt wird. Dafür werden auf der Website von „Mobilität lernen“ Konzeptvorlagen für eine persönliche Mobilitätsschulung angeboten. Das kann dann im besten Fall auch in Verzahnung mit einem konkreten Weg zur Schule, zur Arbeit oder im Kontext der Freizeit erfolgen. 

Die Fachkraft sollte die zu übende Strecke kennen und eine Risikobewertung der Strecke vornehmen, bevor die Mobilitätsschulung beginnt. Dazu ist ein gutes Beobachtungs- und Wahrnehmungsvermögen von Vorteil. Die Fachkraft muss die Herausforderungen, wie Barrieren, erkennen, aber auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Teilnehmenden, wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationspanne, richtig einschätzen können.

Personen mit kognitiver Beeinträchtigung lernen durch Übung der einzelnen Handlungsabfolgen, die im Straßenverkehr notwendig sind. Zum Beispiel das Verhalten an einer Bushaltestelle: den richtigen Bus identifizieren, den Sicherheitsabstand zur Straßenkannte einhalten, wenn der Bus einfährt, andere Fahrgäste aussteigen lassen etc. Während der Fahrt können sie auch bewährte Orientierungstechniken einsetzen, sich zum Beispiel an markanten Gebäuden oder Bildern auf Anzeigetafeln im Bus orientieren.

Die Website MobiLe bietet differenzierte Übungen für den „Schonraum“ [2] an, etwa für die Reaktion beim Bremsen mit dem Fahrrad, Schritt für Schritt die Ampel überqueren, Verkehrsgeräusche wahrnehmen und zuordnen. Dazu gibt es Arbeitsmaterialien, mit denen die Lerninhalte nochmals aufgegriffen werden können. Mit den Teilnehmenden werden Verkehrssituationen (auf Fotos und vor Ort) aus unterschiedlichen Blickwinkeln besprochen und reflektiert. Mit welchem Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmenden ist zu rechnen? Wie verhalte ich mich in dieser Situation? Kann ich noch schnell vor einem herannahenden Pkw die Straße überqueren? Solche Fragen stehen im Fokus. Wichtig ist, dass immer ein Transfer auf die Realsituation hergestellt wird. Das heißt, das Lernen geschieht sehr personenzentriert sowie erfahrungs- und problembasiert. 

Das Angebot von „Mobilität lernen“
Die Website MobiLe stellt Unterlagen und Informationen zur Schulung der eigenständigen Mobilität von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zur Verfügung. Mit Hilfe einer Filterfunktion können für Bus & Bahn fahren, zu Fuß gehen und Fahrrad fahren zentrale Lernbereiche (z. B. Motorik, Verhaltensregeln) ausgewählt werden. Zu jedem Lernbereich werden Arbeitspakete zum Download zur Verfügung gestellt. Die Arbeitspakete beinhalten Hinweise für die Fachkraft (Lernziele/Lernaktivitäten), Schulungsmaterialen für den Theorieunterricht (z. B. Arbeitsblätter) sowie praktische Übungen für den Schonraum und den Realverkehr. Eine Wegeanalyse, ein Mobilitätsplan sowie ein Fragebogen zur Erfassung von Mobilitätskompetenzen, die als Grundlage einer jeden Schulung anzusehen sind, stehen ebenfalls zum Download bereit. Eine Playlist mit Kurzvideos und Urkunden runden das Angebot ab. Die Website wird von der Deutschen Verkehrswacht (DVW) und durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) unterstützt.

HOLM-Blog: Was lässt sich bei der Verkehrsplanung oder im ÖPNV Ihren Erkenntnissen nach verbessern, damit die Nutzung und Teilhabe letztendlichen für alle Menschen einfacher wird? 

Dr. Markus Wolf: Betroffene fordern, dass sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache gefragt werden. Die barrierefreie Mobilität von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung stellt im verkehrs- und teilhabepolitischen Diskurs sowie in der Forschung ein deutlich unterrepräsentiertes Thema dar. Wie eingangs angesprochen, sind die empirischen Daten rar. Es bedarf aber an Erkenntnissen, insbesondere darüber, worin Schwierigkeiten und Barrieren im Kontext der persönlichen Mobilität bestehen. 

Auch die Verkehrsunternehmen und die Verkehrsplanung sind gefordert. In Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern zeichnet sich der öffentliche Raum, einschließlich des ÖPNV, durch ein hohes Maß an Komplexität und Informationsgehalt aus. Dieses gilt es zu reduzieren. Das Konzept „Design für Alle“ sollte hierbei Beachtung finden. Ein praktischer Vorschlag lautet etwa, dass neben der Minutenangabe bis zur voraussichtlichen Abfahrtszeit einer Bahn oder eines Busses zur visuellen Unterstützung eine Art Fortschrittbalken dargestellt werden könnte, der mit zunehmender Annäherung des Fahrzeugs abnimmt. [3] Und: Viele Sozialräume verfügen laut Betroffenen schlichtweg über ein nur unzureichend ausgebautes Netz öffentlicher Verkehrsmittel, um hierauf im Alltag sinnvoll zurückgreifen zu können. [4] 

In Bezug auf das Fahrrad geht aus Studien [5] hervor, dass eine verkehrssichere Infrastruktur als sehr wichtig erachtet wird, es an Fahrbahnüberquerungshilfen fehlt und die Fuß- und Radweginfrastruktur für unzureichend empfunden wird. Das Fahrradverkehrsnetz muss sichtbarer sein und eine sichere Führung aufweisen. Das käme allen, inklusive Personen mit kognitiver Beeinträchtigung, zugute.

HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.