„Wir profitieren ausnahmslos alle davon!“ − Christian Lutz über Barrierefreiheit in der Mobilität
Behindertengleichstellungsgesetz, Personenbeförderungsgesetz, Allgemeines Eisenbahngesetz oder die ÖPNV-Gesetze der Bundesländer – die Liste der Rechtsnormen, die Barrierefreiheit in der Mobilität regeln und fordern, ist lang. Doch in der Praxis ist für Bund, Länder, Kommunen und Verkehrsunternehmen noch vieles zu tun. Das meint auch Mobilitätsexperte Christian Lutz. Um Menschen, mit und ohne Behinderung, eine barrierefreie Mobilität zu ermöglichen, sieht er als eine der Herausforderungen, die bestehenden Regelungen in der Praxis durchzusetzen. In einer Studie der KCW GmbH, der Forschungsgesellschaft STUVA e.V. aus Köln und von Prof. Matthias Knauff für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) hat er Handlungsempfehlungen für Verantwortliche auf allen föderalen Ebenen erarbeitet. In der (frühzeitigen) Beteiligung von Menschen mit Behinderungen bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen oder bei Gesetzesvorhaben sieht Christian Lutz ein zentrales Element für die Umsetzung.
HOLM-Blog: Herr Lutz, Sie haben viele Jahre Institutionen des öffentlichen Verkehrs zum Thema Barrierefreiheit beraten. Wo sind denn typische Barrieren heute anzutreffen?
Christian Lutz: Barrieren lauern überall und das ziemlich oft. Die typischen Barrieren, die uns als Erstes in den Sinnkommen, sind Stufen, zu schmale Ein- oder Durchgänge, verstellte oder zugeparkte Gehwege. Betroffen sind in der Regel Menschen, die körperlich beeinträchtigt sind und beispielsweise im Rollstuhl sitzen oder Gehhilfen benötigen. Etwas weniger geläufig sind zu hoch angesiedelte Tresen, Schalter oder sonstige Bedienelemente in und an Serviceeinrichtungen. Sie erschweren es im Rollstuhl sitzenden Personen oder kleinwüchsigen Menschen, dort entsprechende Dienstleistungen wahrzunehmen, Tickets zu kaufen oder Waren zu erwerben.
HOLM-Blog: Aber es gibt doch sicher Unterschiede, was als Barriere betrachtet wird. So ist eine Bordsteinkante für Rollstuhlfahrer*innen ein Hindernis, für blinde und sehbehinderte Menschen aber ein wichtiges Signal, das vor einer Veränderung auf der Wegstrecke warnt.
Christian Lutz: Ja, Barrieren werden sehr individuell wahrgenommen. Wenn wir uns die verschiedenen Beeinträchtigungsformen anschauen, merken wir erstmal, wie viele Barrieren im öffentlichen wie im privaten Raum existieren. Für sehbehinderte und blinde Menschen stellen unter anderem fehlende akustische Elemente sowie nicht vorhandene Blindenschrift, beispielsweise Brailleschrift, als Ergänzung zu rein visuellen Informationen Barrieren dar. Wenn am Boden taktile Leitsysteme, die wir zum Beispiel von Haltestellen oder Bahnhöfen kennen, fehlen oder unvermittelt ins Leere laufen, ist auch das eine Barriere. Gehörlose und hörgeschädigte Menschen sehen sich wieder anderen Barrieren ausgesetzt. Für sie stellt etwa das Fehlen von textlich oder visuell gegebenen Informationen eine große Barriere dar. Ebenso wichtig ist es, kognitive Einschränkungen mitzudenken. Denn für viele davon betroffene Menschen sind komplexe Informationen häufig schwer oder gar nicht verständlich, weshalb sie sich auch vielfach Barrieren ausgesetzt sehen, die den Alltag und letztlich auch soziale Teilhabe erschweren.
HOLM-Blog: Im Alltag nutzen wir unterschiedliche Verkehrsmittel, um von A nach B zu kommen. Gerade der Einstieg, Ausstieg oder Umstieg fällt nicht allen einfach. Liegt bei solchen Übergängen zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln oder Räumen eine besondere Herausforderung?
Christian Lutz: Die Schnittstellenproblematik bei der Herstellung von Barrierefreiheit ist hochrelevant. Das sehen wir vor allem im Verkehrsbereich, der sehr sektoral geprägt ist, und hier insbesondere im öffentlichen Verkehr. Ein barrierefreier Einstieg zum Beispiel in einen Bus ist wichtig, aber wir müssen immer die gesamte Mobilitätskette betrachten. D.h. von der Information, über die Buchung bis zur Nutzung eines Verkehrsmittels, vom Einstieg zum Ausstieg, von der ersten bis zur letzten Meile müssen wir Barrierefreiheit mitdenken. An den Schnittstellen gibt es aber häufig Brüche, zum Beispiel wenn verschiedene Infrastrukturbetreiber ins Spiel kommen, unterschiedliche Baulastträger in der Verantwortung sind, mehrere Verkehrsunternehmen den Betrieb erbringen. Ein Beispiel: In Deutschland haben wir bei der Eisenbahn die drei gängigen Bahnsteighöhen von 55 cm, 76 cm und 96 cm; zusätzlich gibt es nicht wenige Bahnsteige, die 38 cm Höhe aufweisen. Fahren wir mit einem Regionalzug grenzüberschreitend von einem Bundesland in ein anderes, kann es sehr gut sein, dass wir zwar stufenlos ein-, aber nicht aussteigen können. Ganz zu schweigen vom europäischen Ausland, wo sich die Lage wieder anders gestaltet.
HOLM-Blog: Welchen Stellenwert hat Barrierefreiheit heute? Und wurden in den vergangenen Jahren Fortschritte erzielt?
Christian Lutz: Das Thema Barrierefreiheit ist heute präsenter als noch vor vielen Jahren. Sicherlich gibt es auch Fortschritte. Wir sehen heute im ÖPNV beispielsweise mehrheitlich niederflurige und absenkbare Busmodelle, die über Stellplätze für Rollstühle verfügen. Der barrierefreie Ausbau der Haltestellen ist vielerorts allerdings stark in Verzug. Wir haben kürzlich unsere Studie zur Evaluierung der Barrierefreiheit im Verkehrsbereich abgeschlossen. Die KCW hat diese gemeinsam mit der Forschungsgesellschaft STUVA e.V. aus Köln sowie Prof. Matthias Knauff (Universität Jena) im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) durchgeführt. Ein zentrales Ergebnis ist, dass wir es weniger mit einem Defizit des bestehenden Rechtsrahmens zu tun haben als vielmehr mit einem Durchsetzungsproblem der bestehenden Regelungen in der Praxis. Die Handlungsempfehlungen, die wir aus der Analyse abgeleitet haben, adressieren sowohl den Bund als auch die Länder und Kommunen, aber auch Verkehrsunternehmen.
HOLM-Blog: In der Studie wurden allein fast vierzig Handlungsempfehlungen erarbeitet, die sich auf die Umsetzung von Barrierefreiheit beziehen. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?
Christian Lutz: Eine Projektförderung, und damit die Verausgabung öffentlicher Gelder, sollte nur erfolgen, wenn sie auch an die tatsächliche Zielerreichung barrierefreier Mobilität gekoppelt ist. Eine Maßnahme muss also daraufhin geprüft werden, ob sie nach Fertigstellung bzw. Umsetzung tatsächlich auch Barrierefreiheit hergestellt hat. Ebenso sollten Möglichkeiten zur Sanktionierung bei Nichteinhaltung gesetzlicher Vorgaben in Bezug auf Barrierefreiheit bestehen. Zusätzliches Personal in öffentlichen Verwaltungen, das sich speziell der barrierefreien Mobilität widmet, ist dabei ebenso wichtig wie ein regelmäßiges Monitoring, zum Beispiel in Bezug auf die Nahverkehrsplanung der Kommunen, die zentral ist für die Entwicklung des ÖPNV in Kreisen und Gemeinden. Schulungen müssen weitaus umfassender durchgeführt werden, denn sie können helfen, Personal in Verwaltungen wie auch in Verkehrsunternehmen für die Belange von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Viel stärker noch müssten die Instrumente der Digitalisierung genutzt werden. Hier gibt es vereinzelt bereits tolle App-Lösungen von Verkehrsunternehmen, die sehbehinderten und blinden Menschen die Orientierung im öffentlichen Verkehr erleichtern.
HOLM-Blog: Was ist Ihnen über die von Ihnen jetzt genannten Handlungsempfehlungen hinaus besonders wichtig bei der Planung und Umsetzung von barrierefreier Mobilität?
Christian Lutz: Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen ist das zentrale Element. Das betrifft sowohl Gesetzesvorhaben als auch Infrastrukturmaßnahmen. Unsere Studie hat sehr deutlich gezeigt, dass eine umfassende Beteiligung betroffener Personengruppen, die nun mal Expertinnen und Experten in Sachen Barrierefreiheit sind, unabdingbar ist. Auf allen Verwaltungsebenen sollten Behindertenbeauftragte und -beiräte auf gesetzlicher Grundlage installiert werden und deren Beteiligung sollte bei allen wesentlichen Planungen und Maßnahmen zur barrierefreien Mobilität verpflichtend sein. Auch in Bezug auf Gesetzgebungsverfahren gilt Ähnliches: Vertreterinnen sollten frühzeitig eingebunden werden. Aus Gesprächen, die ich mit Wissensträgern und Betroffenen dahingehend geführt habe, weiß ich, dass dies häufig viel zu spät der Fall ist. Die Fristen für Stellungnahmen sind häufig zu kurz und betragen teilweise nur wenige Tage. Für ehrenamtlich organisierte Vertretungsorgane ist eine Platzierung ihrer Interessen so vielfach kaum zu bewerkstelligen. Kurzum: Wenn Aspekte der barrierefreien Mobilität berührt sind, müssen Betroffene frühzeitig vor allem mit Blick auf Gesetzgebungsverfahren und darüber hinaus zu allen Phasen eines Planungs- oder Beschaffungsprozesses beteiligt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Belange von Menschen mit Behinderungen hinreichend berücksichtigt werden können.
HOLM-Blog: Bei der Planung der Verkehrsinfrastruktur ist Barrierefreiheit nur eines von vielen Themen, andere sind etwa Sicherheit der Verkehrsteilnehmer*innen und Klimaschutz. Stehen sie dem Ziel der Barrierefreiheit im Weg?
Christian Lutz: Die Herstellung von Barrierefreiheit steht durchaus in Konkurrenz zu anderen Themen, aber längst nicht immer. Betroffene und Expertinnen berichteten uns zum Beispiel davon, dass der Anstieg des Radverkehrs infolge der Coronapandemie, insbesondere aber der Anstieg bei der Nutzung der Elektro-Tretroller, die vielfach auf Gehwegen stehen oder liegen, neue Barrieren darstellen. Sehbehinderte oder blinde Menschen sind hier ebenso betroffen wie Personen mit körperlichen Beeinträchtigungsformen. Es ist also wichtig, im Rahmen der Unabdingbarkeit einer weitreichenden Mobilitätswende im Sinne des Klima- und Umweltschutzes, die Perspektive und die Belange von Menschen mit Behinderungen mit abzubilden.
HOLM-Blog: Mit welchen Schwierigkeiten ist beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zurechnen? Was wird weniger problematisch sein?
Christian Lutz: In den nächsten Jahren wird massiv in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden, womit natürlich auch erhebliche Einschränkungen durch Baustellen verknüpft sind. Auch in diesem Zusammenhang ist das Thema Störungsmanagement im Nah- und Fernverkehr hochrelevant. Besondere Beachtung sollte hier den Belangen von Menschen mit Behinderungen zukommen, das gilt sowohl bei kurz- als auch bei langfristigen Störungen, also mit Blick auf Ersatz- und Umleitungsverkehre und die ganz elementare Fahrgastinformation, analog wie digital. Weniger problematisch ist die Automatisierung, die Sicherheits- und Barrierefreiheitsaspekte nicht ausschließen. Das zeigen auch Beispiele aus der Praxis, wie die seit rund fünfzehn Jahren vollautomatisch betriebene U-Bahn in Nürnberg. Die enge Einbindung von Betroffenengruppen vorausgesetzt, können auch Prozesse mit umfassender Tragweite, wie im Falle einer Automatisierung gegeben, die Anforderungen an die Herstellung von Barrierefreiheit erfüllen.
HOLM-Blog: Die UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte in Bezug auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung. Für Deutschland ist sie seit dem 26. März 2009 rechtsgültig. Was ergibt sich daraus für die Umsetzung von Barrierefreiheit in der Mobilität?
Christian Lutz: Was leider in der öffentlichen Diskussion häufig zu kurz kommt, ist, dass wir ausnahmslos alle von Barrierefreiheit – im privaten wie im öffentlichen Raum – profitieren. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in dem Zusammenhang das sogenannte „Design for all“ geprägt. Hiermit ist die Vorstellung verknüpft, dass die entsprechenden Einrichtungen „von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden können“ (Art. 9 UN-BRK), also von Personen mit Behinderungen ebenso wie von Menschen ohne Behinderungen. Unterwegs mit Kinderwagen oder mit großem Gepäck, temporär eingeschränkt durch eine Sportverletzung oder im gehobenen Alter nicht mehr so mobil wie früher − Barrierefreiheit erleichtert allen Menschen den Alltag und die soziale Teilhabe. Ich wünsche mir, dass dies noch tiefer in das Bewusstsein von Politik und Gesellschaft vordringt.
HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.