Als Standorte für Arbeits- und Ausbildungsplätze ist Pendeln besonders für Städte mit großem Einzugsgebiet von großer Bedeutung. In der „Einpendlerstadt“ Frankfurt am Main zum Beispiel hatten 2020 fast 390.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ihren Arbeitsplatz, ohne dort zu wohnen (vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Frankfurt 2021, Seite 126). Hinzu kommen Selbstständige, Verbeamtete und Studierende, die ebenfalls regelmäßig zwischen Umland und Stadt unterwegs sind. Dr. Luca Nitschke und sein Team am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung haben 2023 im Mobilitätsexperiment „PendelLabor“ das Pendeln in der Region Frankfurt/Rhein-Main untersucht. Am Projekt war eine Reihe von Partnern aus Forschung und Praxis beteiligt. Im Interview berichtet er, wie Pendlerinnen und Pendlern der Umstieg vom Auto auf alternative Verkehrsmittel wie ÖPNV oder Pedelec leichter gemacht werden kann. Einen wichtigen Ansatz sieht er darin, praktische Möglichkeiten zum Ausprobieren von alternativen Verkehrsmitteln zu schaffen und den Umsteigewilligen mit einem Beratungsangebot zur Seite zu stehen.

Dr. Luca Nitschke ist seit November 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISOE − Institut für sozial-ökologische Forschung, wo er zur Transformation von nachhaltigen Mobilitätspraktiken forscht. Das ISOE gehört zu den führenden unabhängigen Instituten der Nachhaltigkeitsforschung. Es entwickelt wissenschaftliche Grundlagen und zukunftsweisende Konzepte für sozial-ökologische Transformationen. Hierfür forscht das ISOE transdisziplinär zu globalen Problemen wie Wasserknappheit, Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Landdegradation und findet tragfähige Lösungen, die ökologische, gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen berücksichtigen. Bild: ISOE, Harry Kleespies

HOLM-Blog: In Ihrem Mobilitätsexperiment haben 40 Personen aus zwei hessischen Landkreisen über einen Zeitraum von acht Monaten versucht, ihre Pendelpraxis nach Frankfurt vom eigenen Auto auf nachhaltigere Verkehrsmittel umzustellen. Ist das den Personen gelungen?

Dr. Luca Nitschke: Den meisten Personen ist es sehr gut gelungen, ihren Pendelalltag umzustellen. Von 40 Experimentteilnehmenden pendeln jetzt drei Viertel seltener bis gar nicht mehr mit ihrem Auto, sondern mit dem Pedelec, dem ÖPNV oder einer Kombination davon. Dieser Erfolg hängt sicherlich mit dem Forschungsansatz und Experimentdesign zusammen, den wir vom ISOE zusammen mit unserem Projektpartner ivm (Integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement in der Region FrankfurtRheinMain) entwickelt haben. Dabei haben wir uns nicht auf die Bereitstellung eines alternativen Verkehrsmittels beschränkt. Wir haben die Teilnehmenden auch umfassend unterstützt, zum Beispiel durch Mobilitätsberatung, FAQs und einen Austausch untereinander. Wir wollten damit herausfinden, was neben anderen Verkehrsmitteln und Infrastrukturen an Fähigkeiten und Bedeutungsveränderungen notwendig ist, um Pendeln in eine nachhaltige Richtung zu lenken.

Von 40 Teilnehmenden pendeln jetzt drei Viertel seltener bis gar nicht mehr mit ihrem Auto, sondern nutzen andere Verkehrsmittel. Eine Person konnte nicht zu ihrer neuen Pendelroutine befragt werden. Abbildung: ISOE

HOLM-Blog: Was sind wichtige Handlungsempfehlungen, die Sie aus den Ergebnissen Ihrer Untersuchung ableiten?

Dr. Luca Nitschke: Wir haben aus den Ergebnissen drei wesentliche Erkenntnisse abgeleitet, die bei der Veränderung von Pendelmobilität in Richtung Nachhaltigkeit beachtet werden sollten:

Erstens ist Pendeln Teil eines komplexen Alltags: Der Weg zur Arbeit ist eng mit dem allgemeinen Tagesablauf verknüpft. Maßnahmen zur nachhaltigen Gestaltung von Pendelmobilität sollten also dazu beitragen, dass Pendelnde den unterschiedlichen Anforderungen des Alltags und der Arbeit, z. B. den Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen oder flexiblen Arbeitszeiten, besser gerecht werden können.

Zweitens spielen Handlungsfelder jenseits des Verkehrs eine wichtige Rolle: Die Siedlungsentwicklung bestimmt die räumliche Lage von Wohn- und Arbeitsstandorten, aber auch die Standorte anderer Alltagsorte (zum Beispiel Supermärkte, Apotheken, Arztpraxen, Behörden, Schulen und Kitas). Weitere Handlungsfelder betreffen die Öffnungszeiten von Alltagsorten und Betreuungseinrichtungen sowie die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz.

Drittens sind die Bedürfnisse unterschiedlich: Während für manche Pendler*innen im Vordergrund steht, möglichst schnell zur Arbeit zu kommen, ist es für andere der Komfort oder die Möglichkeit den Pendelweg mit anderen Aktivitäten oder Erledigungen zu verbinden.

Pendeln ist Teil eines komplexen Alltags: Mobilität findet häufig nicht isoliert zwischen Arbeitsstätte und dem eigenen Zuhause statt. Für viele ist das Auto die flexibelste Lösung. Illustration: Dr. Luca Nitschke (ISOE)

HOLM-Blog: Wie empfinden die Pendler*innen das Pendeln? Lieben sie es oder empfinden sie es als eine lästige Notwendigkeit?

Dr. Luca Nitschke: Welche Einstellung mit dem Pendeln verbunden ist, ist sehr individuell. Wir haben im Projekt PendelLabor umfangreiche qualitative und quantitative Befragungen in der Region Frankfurt/Rhein-Main durchgeführt, in denen auch die Einstellungen gegenüber dem Pendeln abgefragt wurden und auf deren Grundlage wir verschiedene Typen von Pendelpraktiken entwickelt haben. Dabei wurde offensichtlich, dass es neben dem Klischee der genervten und gestressten Pendler*in auch ganz andere Einstellungen gibt. Ein gutes Viertel der Pendler*innen in der Region ist dem Pendeln zum Beispiel gleichgültig gegenüber eingestellt. Es lässt sich für sie nicht vermeiden und sie haben es schlichtweg akzeptiert. Etwa ein Drittel, haben aber auch eine positive Einstellung gegenüber ihrem Arbeitsweg. Für sie ist es zum Teil eine Möglichkeit zu entspannen oder auch eine wichtige Trennung zwischen Arbeits- und Privatleben. Insbesondere wenn der Pendelweg mit dem Fahrrad zurückgelegt wird, kann Pendeln auch den Besuch im Fitnessstudio ersetzen und ist eine Form von Freizeit, die zu einem gesunden Lebensstil beiträgt.

Pendelpraktiken und Einstellungen zum Pendeln der Teilnehmenden am PendelLabor. Tabelle: Dr. Luca Nitschke (ISOE)

HOLM-Blog: Welche Faktoren spielen bei den Eistellungen eine Rolle? Sind auch persönliche Faktoren wie das Alter entscheidend?

Dr. Luca Nitschke: Das Verkehrsmittel, die Entfernung und die Dauer spielen hierbei natürlich eine wichtige Rolle. Grundsätzlich finden sich die Einstellungen gegenüber dem Arbeitsweg bei unterschiedlichen Verkehrsmitteln wieder. Jedoch sind die Möglichkeiten, den Arbeitsweg zur sportlichen Betätigung oder Entspannung zu nutzen bei der Verwendung von Fahrrad, Pedelec oder ÖPNV größer. Persönliche Faktoren wie das Alter haben auf Grundlage unserer Ergebnisse nur einen mittelbaren Einfluss. Jedoch ist die Lebenssituation entscheidend bei der Wahlfreiheit des Verkehrsmittels. Sind zum Beispiel Kinder im Haushalt, dann sind Eltern, insbesondere Mütter, deutlich häufiger mit dem Auto unterwegs und haben weniger Möglichkeiten ihren Arbeitsweg positiv zu gestalten.

HOLM-Blog: Wie lassen sich positive Sichtweisen aufs Pendeln verbessern oder fördern?

Dr. Luca Nitschke: Ein wichtiger Faktor ist die Infrastruktur für den Radverkehr und den ÖPNV. Eine naturnahe Wegeführung von Radwegen und deren großzügige und sichere Gestaltung macht das Radfahren leichter und komfortabler. Beim ÖPNV sind es die Gestaltung von Haltestellen und Fahrzeugen sowie und die Bereitstellung von Informationen. Sie ermöglichen es, die Fahrtzeit anderweitig nutzen zu können, zum Beispiel zum Lesen, Musikhören, Entspannen oder für Erledigungen.

Mit Blick auf die kommunale Planung spielen die Standorte von Arbeitsorten, Gewerbegebieten, Wohngebieten, Schulen, Betreuungseinrichtungen und weiteren Alltagszielen eine wichtige Rolle. Sind diese nicht gut mit dem Fahrrad oder ÖPNV erreichbar und entsprechend nicht mit dem Pendelweg zu verbinden, wird schnell auf das Auto zurückgegriffen. Nicht zuletzt muss die Kombination von Verkehrsmitteln auf dem Arbeitsweg, zum Beispiel von Fahrrad und ÖPNV oder Auto und ÖPNV, vereinfacht werden. Damit können auch längere Wege mit wenig Autonutzung zurückgelegt werden und positive Sichtweisen auf das Pendeln gefördert werden.

HOLM-Blog: Was können Arbeitgebende tun, um mögliche Belastungen durch das Pendeln zu verringern?

Dr. Luca Nitschke: Arbeitgebende können insbesondere im Rahmen des betrieblichen Mobilitätsmanagements sehr viel dafür tun, dass Arbeitnehmende entlastet werden. Am offensichtlichsten sind hier Regelungen zum mobilen Arbeiten, zum Beispiel im Homeoffice oder Co-Working-Space, die Pendelwege reduzieren bzw. verkürzen. Auch Regelungen zur Arbeitszeit sind ein Hebel. So ermöglichen Gleitzeitmodelle den Pendelnden, nicht zur Rush-Hour fahren zu müssen. Dies ist allerdings nicht in allen Unternehmen möglich. Deshalb sind Angebote wie Jobtickets, Dienstradleasing, gute Fahrradabstellanlagen oder Umkleideräume wichtige Maßnahmen, um Beschäftigten ein nachhaltiges Pendeln zu ermöglichen. Für die Region Frankfurt/Rhein-Main gibt es hierfür das kostenlose Beratungsprogramm „Besser zur Arbeit“ der ivm.

HOLM-Blog: Was können Pendler*innen selbst ändern? Wie lässt sich das eigene Pendeln gestalten?

Dr. Luca Nitschke: Der größte Handlungsspielraum von Pendler*innen besteht darin, den Alternativen eine Chance zu geben und sie auszuprobieren. Das ist leider leichter gesagt als getan, da viele Rahmenbedingungen – Infrastruktur, Politik, Regelungen am Arbeitsplatz – dem im Weg stehen und es auch wenig Unterstützungs- und Informationsmöglichkeiten für nachhaltiges Pendeln gibt. Pendler*innen sind deshalb oftmals auf sich allein gestellt.

HOLM-Blog: Sie sprechen sich für „Experimentierräume“ aus, die die Möglichkeit bieten sollen, neue Pendelpraktiken zu erproben und neue Kompetenzen zu erlernen. Wie könnten solche Räume in der Praxis aussehen?

Dr. Luca Nitschke: Experimentierräume sollen es Pendelnden ermöglichen, ohne finanzielle Verpflichtungen und mit kompetenter Beratung und Unterstützung Alternativen zum Auto auf ihrem Pendelweg auszuprobieren. Aber es gibt hierfür kaum Angebote und die Umstellung etwa auf das Pedelec ist keine leichte Aufgabe. Wie gehe ich mit schlechtem Wetter um? Was ist die beste Route? Wie kann ich Gegenstände oder sogar Personen mitnehmen? Wie wir Wege mit dem Auto bewältigen, ist gelernter Alltag. Bei anderen Verkehrsmitteln stehen viele mitunter vor großen Hürden.

Hier soll deshalb ein Pendelexperiment ansetzen, indem zum Beispiel eine Kommune oder ein Arbeitgeber es den Bürger*innen oder Arbeitnehmer*innen ermöglicht, eine Mobilitätsberatung zu erhalten und nachhaltige Verkehrsmittel kostenlos für mehrere Monate zu testen. Nicht nur im Projekt PendelLabor wurden mit diesem Modell große Erfolge erzielt. Und ein großer Vorteil ist zudem: Sie kommen zunächst ohne kostspielige Investitionen in Infrastrukturen aus und entfalten ihre Wirkung dadurch nicht erst in Jahrzehnten, sondern unmittelbar. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Kommunen und Arbeitgeber eine wichtige Rolle spielen, um solche Angebote bekannt zu machen. Sie zeigen aber auch, dass bei Pendler*innen oft eine große Bereitschaft besteht, den Pendelalltag umzugestalten, sei es aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen.

HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.

Mehr über das PendelLabor

Auf pendellabor.de sind weitere Informationen über das Projekt und den zahlreichen Untersuchungen zu finden. Dort stehen neben der Aufarbeitung der zentralen Ergebnisse auch alle Projektveröffentlichungen zum Download zur Verfügung. Die skizzierten Handlungsempfehlungen wurden in Form von neun Botschaften veröffentlicht, die sich insbesondere an kommunale Akteure aus Politik und Verwaltung richten (Broschüre: Pendelmobilität nachhaltiger gestalten. Empfehlungen für lokale und regionale Akteure).