
„Die Trendwende ist geschafft, aber es braucht noch viel mehr neue Züge!“ – Dr. Bernhard Knierim über Nachtzüge
Die Nachtzugkarte 2024 von Back-on-Track offenbart ein dichtes Netz an Verbindungen in Europa. Doch Dr. Bernhard Knierim sieht noch so manche Lücke. Für ihn sind Nachtzugfahrten eine komfortable und klimaschonende Alternative zu Reisen mit Bussen, Pkw oder Flugzeugen. Warum? Wir haben den Mobilitätsaktivisten und erfahrenen Zugreisenden gefragt.

HOLM-Blog: Herr Dr. Knierim, das Netz an Nachtzugverbindungen in Europa wird von Jahr zu Jahr dichter. Kann man von einer Renaissance der Nachtzüge sprechen?
Dr. Bernhard Knierim: Von einer echten Renaissance würde ich noch nicht sprechen, denn dazu ist der Zuwachs an Verbindungen noch zu klein. Aber es ist sehr erfreulich, dass nach vielen Jahren des Niedergangs, in denen immer wieder Verbindungen wegfielen, jetzt erstmals Nachtzugverbindungen wieder zurückkommen. So wurden 2023 die neuen Verbindungen zwischen Brüssel/Amsterdam und Berlin sowie zwischen Paris und Berlin eröffnet. Die Trendwende ist geschafft, aber es braucht noch viel mehr neue Züge.

HOLM-Blog: Warum nachts reisen, wenn andere schlafen? Was sind die besonderen Vorzüge und Vorteile einer Reise per Nachtverbindung?
Dr. Bernhard Knierim: Im Idealfall schlafen ja nicht nur die anderen, sondern eben auch der Reisende im Zug. Der besondere Vorteil der Nachtzugverbindung ist die gewonnene Zeit: Statt acht bis vierzehn Stunden über den Tag zu reisen, verschläft man den Großteil der Reise – und legt so über Nacht viele hundert Kilometer zurück. Die großen Vorzüge sind der Reisekomfort – auch wenn der natürlich von der gewählten Buchungsklasse (Schlafwagen, Liegewagen oder Sitz) abhängt – und die eingesparte Hotelübernachtung. So kommt man morgens ausgeschlafen am Zielort an, erhält im Zug noch ein Frühstück und kann im Anschluss gleich in den Tag starten – ganz gleich, ob man geschäftlich unterwegs ist oder privat die Stadt erkunden will. Oder man reist noch weiter, hat dann aber schon einen erheblichen Teil der Reise über Nacht zurückgelegt.

HOLM-Blog: Nachtzugfahren wird moderner. So wirbt etwa der Nightjet der ÖBB mit neuen Komfortkategorien, wie Mini Cabin (Schlafkapseln für Einzelpersonen) oder barrierefreien Abteilen. Welche neuen Angebote gibt es und was ist künftig noch zu erwarten?
Dr. Bernhard Knierim: Leider hat sich lange nicht viel getan bei neuen Konzepten oder Komfortkategorien, weil in Europa lange Jahre kaum jemand in neue Nachtzüge investiert hat. Tatsächlich setzen die ÖBB mit den neuen Mini Cabins, aber auch mit komfortableren Schlafwagenabteilen oder dem „Liegewagen Plus“ für Familien gerade neue Standards. Aber auch andere Unternehmen haben neue Züge bestellt oder stehen kurz davor, so dass ich international in den nächsten Jahren noch weitere Neuerungen erwarte – auch wenn wir die noch nicht im Detail kennen. Ich halte es für eine große Chance für das Nachtzuggeschäft, dass hier durch das zunehmende Klimabewusstsein und die wachsende Nachfrage auch nach grenzüberschreitenden Zugreisen Raum für neue Ideen und Innovationen entsteht.
HOLM-Blog: Zu welchen Verkehrsmitteln können Nachtzüge eine Alternative sein? Flugzeug, Bus, Pkw?
Dr. Bernhard Knierim: Letztlich zu allen. Bei Strecken, auf denen man länger als acht Stunden mit dem Zug unterwegs ist, ist der Nachtzug die komfortabelste Option. Nachtzugverbindungen können Alternativen für viele innereuropäische Flugverbindungen sein, aber auch für lange Busfahrten oder Reisen mit dem Pkw. Gegenüber dem Bus kann der Nachtzug vor allem mit Komfort punkten, gegenüber Flugzeug und Pkw ist es zusätzlich die wesentlich geringere Klimawirkung. Wer mit dem Nachtzug statt mit dem Flugzeug reist, schädigt das Klima rund 28-mal weniger! (vgl. Maier, Juri (2022): The Global Warming Reduction Potential of Night Trains. Zuletzt geprüft am 15.02.2024)


HOLM-Blog: Welche Nachtverbindungen sind derzeit besonders gefragt?
Dr. Bernhard Knierim: Erstaunlicherweise sind momentan fast alle Nachtverbindungen sehr gefragt – seien es die beiden Verbindungen nach Schweden, die in die Schweiz, nach Österreich, nach Italien, nach Amsterdam und Brüssel oder die ganz neue Verbindung von Berlin nach Paris. Wenn genug Schlaf- und Liegewagen verfügbar wären, würden die Betreiber gerne weitere neue Verbindungen und zusätzliche Züge aufs Gleis bringen, aber momentan fehlt es an solchen Wagen. Zudem ist es kompliziert, passende Gleistrassen in den verschiedenen Ländern zu buchen, und der Betrieb bleibt trotz der hohen Nachfrage auch wirtschaftlich schwierig. Das liegt auch daran, dass der konkurrierende Flugverkehr weiterhin massiv subventioniert und dadurch künstlich billig gehalten wird – zum Beispiel durch die Befreiung von der Kerosinsteuer oder, bei internationalen Flügen, zudem von der Mehrwertsteuer.
HOLM-Blog: Wo sehen Sie Potenzial für weitere Verbindungen von Deutschland aus oder in Europa?
Dr. Bernhard Knierim: Es gäbe noch viele weitere interessante Strecken von Deutschland aus – beispielsweise Direktverbindungen ins südliche Frankreich oder bis hinunter nach Spanien oder Portugal, viel mehr Verbindungen nach Osteuropa oder Über-Nacht-Verbindungen nach London, an die sich wegen der Sicherheitsvorschriften im Kanaltunnel bislang noch niemand herangewagt hat. Auf vielen europäischen Routen fehlt es bislang noch an Nachtzugverbindungen. Bei einem Blick auf unsere Nachtzugkarte, sehe ich eine Menge Lücken, die es noch zu schließen gäbe.
HOLM-Blog: Sind Nachtzüge eher etwas Europäisches? In welchen Teilen der Welt wird noch häufig Nachtzug gefahren?
Dr. Bernhard Knierim: Europa hat wohl das dichteste Netz, und wir von Back-on-Track setzen uns dafür ein, dass es noch dichter wird. Aber Nachtzüge spielen auch in vielen anderen Teilen der Welt eine große Rolle: China hat zum Beispiel ein großes Netz von Nachtzügen geschaffen. Die sind zum Teil sogar mit Hochgeschwindigkeit unterwegs und legen über Nacht große Entfernungen zurück. In Indien gibt es ein ausgedehntes Netz, mit dem man quer durchs Land reisen kann, in Russland ebenso, und in Nordamerika gibt es die Amtrak-Züge, die teilweise mehrere Tage und Nächte unterwegs sind. Auch in Afrika, Australien und Südamerika kann man auf einigen Strecken in Nachtzügen reisen.
HOLM-Blog: Was war denn Ihr schönstes Nachtzugerlebnis? Welche Strecke können Sie aus Ihrer Erfahrung empfehlen?
Dr. Bernhard Knierim: Die abenteuerlichsten Nachtzugreisen habe ich sicherlich in Indien erlebt. Auch in den USA fährt man – wenn auch im Schneckentempo – durch großartige Landschaften. Die eindrucksvollste Reise war für mich aber die bis hoch nach Schwedisch-Lappland. Morgens aufgewacht, fährt man schon durch die Landschaft nördlich des Polarkreises – und es fühlt sich an wie eine andere Welt. Der Zug ist voll von Menschen, die in dieser großartigen Landschaft wandern oder sie anders erleben wollen; das schafft eine besonders schöne Atmosphäre an Bord.
HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.