Frauen nutzen in der Regel viel seltener Carsharing-Angebote als Männer. Warum ist das so? Wir haben mit der Mobilitätsexpertin Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan über dieses Phänomen gesprochen und sind dabei in die Komplexität des menschlichen Mobilitätsverhaltens eingetaucht.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan ist Expertin für Gender, Diversity und Mobilität, einschließlich innovativer Mobilitätsangebote. Sie gründete das AEM Institute und ist als Beraterin, unabhängige Forscherin und Dozentin für Mobilität, Verkehr und Gesellschaft tätig. Sie studierte Verkehrssysteme, Soziologie, öffentliche Verwaltung und Wirtschaftswissenschaften an der TU Berlin, der FU Berlin, der HWR Berlin und der Linnaeus-Universität in Schweden. Sie hat an verschiedenen Forschungseinrichtungen geforscht, unter anderem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Bild: AEM

HOLM-Blog: Frau Dr. Kawgan-Kagan, kennen Sie die aktuellen Zahlen, wie viele Frauen Carsharing-Angebote nutzen?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Die Anbieter halten sich bei differenzierten Angaben bedeckt, aber die Zahlen, die ich gefunden habe, sind ein Indiz dafür, dass sich an den Daten wenig verändert hat. Nur 15 bis 20 Prozent der Frauen nutzen Carsharing-Angebote – stationsbasierte Angebote etwas häufiger als Free-Floating-Angebote.

HOLM-Blog: Was konnten Sie herausfinden, warum ist das so?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Grundlegend liegt das am unterschiedlichen Mobilitätsverhalten von Männern und Frauen und an den Einstellungen zum Thema. Das Autofahren ist weiterhin ein maskulines Thema. Es fängt schon im Babyalter an, dass Erwachsene – häufig unbewusst – durch ihr Verhalten Jungs sehr viel mehr im technischen Bereich animieren. In einem Experiment von WDR Quarks mit der Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Sabina Pauen wurden die Stereotype deutlich. Erwachsene sollten mit kleinen Kindern spielen. Mädchen wurden wie Jungen und Jungen wie Mädchen gekleidet. Und so gaben Erwachsene den Kindern, die wie Jungs gekleidet waren, Autos zum Spielen und den Kindern, die wie Mädchen gekleidet waren, Puppen. Bei Männern beobachten wir generell auch eine größere Innovationsfreude in Bezug auf Technik, sie probieren gerne Neues aus. Das spiegelt sich auch beim Carsharing wider. Nicht selten testen Männer gerne neue Fahrzeugtypen.

HOLM-Blog: Und Frauen?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Mädchen werden zum Beispiel häufiger und länger gefahren, aus der Angst heraus, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Das ging aus einer Studie der Hochschule RheinMain unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier hervor. [1] Jungen fahren viel häufiger selbstständig mit dem Fahrrad beziehungsweise später mit dem Motorroller oder Auto. Sie werden von Erwachsenen dazu ermutigt. Frauen sind viel öfter und ganz selbstverständlich die Beifahrer*innen. Viele Frauen fühlen sich beim Mieten eines fremden Autos unsicher, da sie nicht mit der Technik vertraut sind und sich auch nicht damit ausprobieren wollen.

HOLM-Blog: Das heißt, bei Frauen werden Ängste geschürt?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Von klein auf wird Mädchen und jungen Frauen ein Gefühl von „Sei stets vorsichtig“ mitgegeben. Das prägt auch ihr späteres Verhalten. Frauen sind in der Regel vorsichtiger und haben ein erhöhtes subjektives Sicherheitsempfinden.

HOLM-Blog: Wodurch ist das Mobilitätsverhalten von Frauen noch geprägt?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Es ist weiterhin vom gesellschaftlichen Rollenverständnis geprägt. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass der Mann überwiegend für den wirtschaftlichen Teil zuständig ist und die Frau sich in der Regel um das Häusliche kümmert. In der Folge legen Frauen viel häufiger Versorgungswege zurück. Sie bringen beispielsweise die Kinder in die Kita und zu Freizeitaktivitäten, kaufen ein oder übernehmen Pflegedienste, wohingegen Männer – vereinfacht gesagt – häufiger nur zur Arbeit oder zum Sport fahren. [2]

Die Grafik zeigt das unterschiedliche Mobilitätsverhalten von Männern und Frauen. Infografik: VCD

HOLM-Blog: Das klingt aber sehr nach einem Klischee!

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Ja, auch wenn wir alle wohl einzelne Gegenbeispiele kennen, leben die Deutschen statistisch gesehen immer noch die stark manifestierte Rollenaufteilung. Das zeigt die Realität und das ist die Grundlage für das unterschiedliche Mobilitätsverhalten der Geschlechter.

HOLM-Blog: Wie sieht es konkret bei Müttern mit Kindern aus?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Obwohl Frauen häufiger öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder zu Fuß gehen, haben wir herausgefunden, dass Frauen, die mit Kindern unterwegs sind und verschiedene Wege erledigen, gerne am eigenen Auto festhalten. Das Auto dient dann als Managementtool und bringt eine große Zeitersparnis. Carsharing wäre in diesem Fall nicht praktikabel. Hinzukommen weitere Unwegsamkeiten, zum Beispiel fehlende Kindersitze.

HOLM-Blog: Welches Verkehrsmittel präferieren Männer, wenn sie mit Kindern unterwegs sind?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Interessanterweise zeigt sich, dass Väter häufiger mit dem Fahrrad unterwegs sind als Männer ohne Kinder. Eine Erklärung könnte sein, dass sie eher davor zurückschrecken, ein Auto zu steuern und sich gleichzeitig um Kinder zu kümmern. Frauen hingegen erleben das Auto dann als sicheren Raum.

HOLM-Blog: Wie schaut es mit dem Nutzungsverhalten von E-Autos aus?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Die Zahlen zeigen, dass bis 2022 die E-Mobilität beim Carsharing zugenommen, aber seit 2023 wieder leicht abgenommen hat.

HOLM-Blog: Woran liegt das?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Die E-Mobilität in Deutschland ist langsam im Kommen, aber die Routine in den Abläufen fehlt den meisten Menschen noch. Unser Mobilitätsverhalten ist enorm routiniert, das Tanken oder der Ticketkauf für den Zug läuft ganz selbstverständlich ab. Bei E-Mobilität fehlt mitunter diese Routine. Wer ein E-Auto mietet, fragt sich häufig: Wo gibt es die nächsten Ladesäulen und wie werden sie bedient? Wie weit komme ich mit dem Akkustand? Die im Fahrzeug angezeigte Reichweite hängt wiederum stark vom Fahrverhalten des Vorgängers ab und wird danach berechnet. Das sind derzeit noch Hemmschwellen. Mit der Zeit wird sich auch das etablieren. Aber diese fehlende Routine kann ein Grund für die zunächst sinkenden Zahlen von E-Autos in den Carsharing-Flotten sein.

HOLM-Blog: Gibt es weitere Punkte, die Menschen davon abhält Carsharing-Angebote zu nutzen?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Ganz klar die Kosten. In einer Umfrage unter Studierenden kam heraus, dass junge Studierende sich nur selten Autos ausleihen. Sie nutzen häufig das Fahrrad und überwiegend öffentliche Verkehrsmittel, da sie in der Regel auf das Semesterticket zurückgreifen können. Etwas, dass zurzeit zu beobachten ist, ist das Quartiers-Sharing, ein privates Carsharing, bei dem eine Gruppe von Menschen Aktivitäten bündelt. So fragen zum Beispiel Menschen aus einer Nachbarschaft in die Gruppe, ob jemand Einkäufe oder ähnliches mitbringen kann.

HOLM-Blog: Das Quartiers-Sharing funktioniert sicher gut für kleinere Besorgungen, aber ich stelle mir gerade vor, wie eine Person die Wocheneinkäufe für zwei oder drei Familien organisieren will.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Ja, dafür ist Quartiers-Sharing sicher nicht geeignet, aber innovative Ideen sind da oder entstehen, auch weil Angebote fehlen. Die Daten basieren primär auf dem Nutzungsverhalten von Männern und deren Bewegungsprofil. Frauen oder andere Personengruppen sind bisher kaum beachtet worden. Aber Carsharing ist sicher eine gute Möglichkeit, vor allem im urbanen Raum, die Fahrzeugdichte zu verringern. Es ist ein Appell an die Carsharing-Anbieter ihre Angebote für verschiedene Personengruppen zugänglich zu machen. Mit Blick auf Frauen, wäre es von Vorteil, Fahrzeuge anzubieten, die nicht mit technischen Spielereien überfrachtet sind. Frauen wollen sich in der Regel nicht ausprobieren, sondern wollen unkompliziert von A nach B kommen. Frauen sollten zum Beispiel auch die Möglichkeit haben, Carsharing vorab auszuprobieren, um sich dann bei der Nutzung sicherer zu fühlen.

HOLM-Blog: Ein Positivbeispiel sind die Stadtwerke Wismar, die seit Mitte 2022 Carsharing anbieten. Deren Zwischenbilanz zeigt, dass überwiegend Frauen dieses Carsharing-Angebot nutzen. Andreas Jarfe, Geschäftsmodellentwickler bei den Stadtwerken Wismar, betont in einem Linkedin-Post: „Carsharing ist weiblich! Eine erstaunliche Erkenntnis: Die App von MOQO ist so nutzerfreundlich, dass selbst die älteste Nutzerin mit 80 Jahren selbständig und ohne Unterstützung ein Auto ausgeliehen hat.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Das ist ein wirklich spannendes Beispiel und einzigartig – auch wenn wir hier nur von 30 Personen insgesamt reden. Wie ich heraushöre, legen die Stadtwerke Wismar den Fokus auf Nutzerfreundlichkeit für verschiedene Personengruppen. Das kann ein Vorbild für andere Carsharing-Anbieter sein.

HOLM-Blog: Doch: Was können Frauen selbst aktiv tun, damit sie sich mit einem geliehenen Auto sicherer im Straßenverkehr fühlen?

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Das eigene Sicherheitsempfinden in Bezug auf den komplexen Stadtverkehr könnte durch mehr Fahrradfahren erhöht werden. Das gibt Selbstvertrauen im Straßenverkehr. Dann ist Frau die Fortbewegung im Straßenverkehr gewöhnt und die Wege sind bekannt.

Frauen stärken ihr Sicherheitsgefühl im Straßenverkehr, wenn sie öfter mit dem Fahrrad fahren. 
Bild: Shutterstock.com/Andrey_Popov

HOLM-Blog: Doch Städte sind auch heute noch überwiegend auf das Auto ausgelegt. Laut Mobilitätsexpertin Katja Leyendecker vom ADFC ist der Radverkehrsanteil von Frauen in vielen Städten noch recht niedrig. Fahrradfahr*innen haben oft das Gefühl, mit den Autos mithalten zu müssen. Alte Radwege sind oft sehr eng oder liegen an der sogenannten Dooring-Zone zwischen parkenden und fahrenden Autos. Frauen, vor allem die, die mit Kindern unterwegs sind, fühlen sich oft unsicher.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Ja, das eine bedingt das andere. Ein gut ausgebautes Fahrradnetz wie in den Niederlanden oder in Dänemark fördert das Radfahren, es gibt Raum und schafft Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden, also auch für Frauen, aber auch für ältere Menschen und Kinder.

HOLM-Blog: Nun sind wir aber bei einem ganz anderen Thema.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan: Aber nein! Ganz und gar nicht. Das eine schließt das andere nicht aus. Deshalb habe ich das AEM Institute gegründet, das Institute for Accessible and Equitable Mobility. Mein Ziel ist es Kommunen bei dem Thema zugängliche und gerechte Mobilität zu beraten, das heißt eben auch: gendergerechte Mobilität. Carsharing ist ein Aspekt der Mobilität, aber auch der ÖPNV mit Bussen und Bahnen und andere Angebote der Shared Mobility und Mikromobilität wie E-Scooter sowie das Radfahren zählen dazu. Wir sind (fast) alle täglich mobil und wir sind divers. Es reicht nicht aus, eine Hälfte der Bevölkerung mit der anderen zu vergleichen, um nachhaltige Mobilität zu fördern. Unser Zugang zu Verkehrsmitteln und zur Verkehrsinfrastruktur, unsere Fähigkeiten, unsere Präferenzen und die Orte, die wir besuchen wollen, sind unterschiedlich. Mein großer Wunsch:  Nachhaltige Mobilität sowie soziale Teilhabe durch Mobilität zu ermöglichen. Das bedeutet, niemanden kategorisch auszuschließen losgelöst von zeitlichen, körperlichen, sozialen und finanziellen Einschränkungen.

HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.