„Reisende entscheiden sich heutzutage bewusster“ – VDR-Geschäftsführer Jens Schließmann im Interview zur Entwicklung der Geschäftsreisen
Die Covid-19-Pandemie hat den Geschäftsreiseverkehr weltweit zum Erliegen gebracht. Persönliche Kontakte, Treffen, Veranstaltungen und Messen konnten zeitweise gar nicht mehr stattfinden. Stattdessen wurden Homeoffice, Videokonferenzen und virtuelle Veranstaltungen zum Arbeitsalltag in den Unternehmen. Und wie ist es heute um das Thema Geschäftsreisen bestellt? Der HOLM-Blog hat beim Verband Deutsches Reisemanagement (VDR) nachgefragt.
HOLM-Blog: Herr Schließmann, wie hat sich der Geschäftsreiseverkehr nach der Pandemie [1] entwickelt?
Jens Schließmann: Die Zahl der Geschäftsreisen ist wieder rasant gestiegen. 2023 gab es laut VDR-Geschäftsreiseanalyse über 116 Millionen Reisen in Deutschland, ein Plus gegenüber 2022 von 55 Prozent. Das sind jedoch 40 Prozent unter dem Vor-Pandemie-Niveau von über 195 Millionen Reisen im Jahr 2019 (siehe Abbildung 1). Die Gründe hierfür liegen zum einen im deutlichen Anstieg der Kosten für Geschäftsreisen. Zum anderen darin, dass sich Reisende heutzutage bewusster entscheiden und somit Umweltaspekte einbeziehen, digitale Optionen abwägen und letztlich auch Reisen bündeln. Dies führte dazu, dass die durchschnittliche Dauer eine Geschäftsreise gestiegen ist.
HOLM-Blog: Was hat sich bei Geschäftsreisen deutlich verändert?
Jens Schließmann: Neben der ‚klassischen Geschäftsreise‘ erlebte insbesondere das MICE-Business [2] ein Comeback. Trotz der Virtualisierung, die sicher nachhaltig Vorteile für die Arbeitswelt geschaffen hat, sind persönliche Plattformen wichtig, um Geschäftsbeziehungen zu pflegen, neue Partnerschaften zu knüpfen und Innovationen voranzutreiben. Die Wahrnehmung von Geschäftsreisen in den Unternehmen hat sich gewandelt: Einst oft als Kostenposition der Mobilitätsbudgets betrachtet, werden sie heute als wertvolle Investitionen angesehen. Insbesondere nach der Pandemie erkennen Unternehmen den Nutzen persönlicher Treffen und Netzwerke für Beziehungen, Wissenstransfer und wie bereits erwähnt Innovation.
HOLM-Blog: Gibt es Unterschiede oder Verschiebungen in der Geschäftsreiseentwicklung zwischen den Verkehrsmitteln?
Jens Schließmann: Für die Wahl des geeigneten Verkehrsmittels berücksichtigen Geschäftsreisende mehrere Faktoren wie Zeit, Komfort, Preis und Flexibilität. Zusätzlich spielt Nachhaltigkeit für viele eine wichtige Rolle in der Mobilität – sowohl auf Geschäftsreisen als auch auf dem Arbeitsweg. Die Rolle von Schienenverkehr und ÖPNV wächst. Laut unserer aktuellen Analyse ist der Wechsel vom Flugzeug auf den Zug insbesondere auf innerdeutschen Strecken die zweitbeliebteste Maßnahme zur Förderung der umweltbezogenen Nachhaltigkeit in den Unternehmen – nach Einführung nachhaltiger Angebote für Beschäftige, beispielsweise Fahrradleasing. Und auch der Umstieg von Pkw oder Taxi auf den ÖPNV nimmt zu. Zu dieser Entwicklung konnte auch die Einführung des Deutschlandtickets beitragen, das bei Geschäftsreisen unter anderem die Abrechnung durch Vermeidung zahlreicher Einzelbelege vereinfacht. Aus unserer Sicht war die Einführung ein wichtiges Signal aus der Politik, um die bundesweite Vernetzung im Bereich der Mobilität zu fördern.
HOLM-Blog: Was kann noch getan werden, um eine nachhaltige Mobilität zu fördern?
Jens Schließmann: Um die nachhaltige Transformation im Verkehrssektor voranzutreiben, ist es nun unerlässlich, in Verkehrswege und digitale Infrastruktur zu investieren. Denn der für die Reisenden relevanteste Faktor bei der Wahl des Verkehrsmittels ist die Verlässlichkeit. Als VDR betonen wir daher, dass die Politik auch Maßnahmen ergreifen muss, gerade in Zeiten von Krisen und Streiks eine planbare und zuverlässige Mobilität sicherzustellen.
HOLM-Blog: 2023 gab es bei den Urlaubsreisen einen Boom. Aber die Preise, etwa bei Flügen, Mietwagen, Hotels, sind merklich teurer geworden. Trifft das auch bei Geschäftsreisen zu? Was hat das für Konsequenzen?
Jens Schließmann: Die Ausgaben für Geschäftsreisen sind erneut wesentlich schneller gestiegen als das Reisevolumen. Neben den Preiserhöhungen bewirkten auch die erhöhte Nachfrage, Kapazitätsengpässe und Energiekosten, dass die Geschäftsreisekosten um 72 Prozent zum Vorjahr zunahmen.
HOLM-Blog: Was hat das zur Folge?
Jens Schließmann: Die gestiegenen Kosten haben zur Folge, dass Reisen bewusster geplant und entschieden werden. Damit steht der Zweck der Reise verstärkt im Mittelpunkt, samt CO2-Fußabdruck. Das zeigt sich auch in dem Trend der letzten Jahre, Geschäftsreisen vermehrt zu bündeln. Mittlerweile wird vorausschauender gebucht. Anlässe und Termine werden häufig zusammengefasst. Während im Jahr 2019 noch 72 Prozent der Dienstreisen ohne Übernachtung stattfanden, waren es im Jahr 2023 nur 42 Prozent. Die Durchschnittsdauer der Geschäftsreise stieg weiter an und betrug im letzten Jahr insgesamt 2,6 Tage (siehe Abbildung 2).
HOLM-Blog: Welche wichtigen Entwicklungen oder Trends sehen Sie bei Geschäftsreisen?
Jens Schließmann: Der Trend geht zur ganzheitlichen Betrachtung von Mobilität. Ein modernes Travel Management muss bei einer Geschäftsreise eine Vielzahl an Themen berücksichtigen; zum Beispiel Reisesicherheit und Kosten aber auch umweltbezogene und soziale Nachhaltigkeit, wie Arbeitsbedingungen. Um alle Schnittstellen und Prozesse zu berücksichtigen, gibt es in einigen Unternehmen bereits konkrete Ansätze, Mobilität ganzheitlich zu betrachten und in einem Bereich zu bündeln. Dort wird auch eine umfassende Mobilitätsstrategie formuliert, die neben Geschäftsreisen auch den Arbeitsweg der Mitarbeitenden berücksichtigt. Denn auch hier verändern neue Angebote und Rahmenbedingungen die Mobilitätsoptionen von Mitarbeitenden und Unternehmen. Mit der gesetzlichen Verpflichtung Emissionen zu erheben, rückt somit die Pendlermobilität zusätzlich in den Fokus.
HOLM-Blog: Welche Einflüsse auf Geschäftsreisen gibt es noch?
Jens Schließmann: Die aktuelle Entwicklung zeigt zudem, dass eine große Nachfrage nach flexiblen Arbeitszeiten in Deutschland und weltweit besteht. Laut der aktuellen VDR-Geschäftsreiseanalyse haben 43 Prozent der Unternehmen „Workation“ [3] bereits umgesetzt und 33 Prozent planen es. Hierbei gilt es steuerrechtliche und personalpolitische Vorgaben zu beachten. Der VDR unterstützt die Unternehmen dabei, sich in den Regularien zurechtzufinden – einerseits durch den Austausch von Best Practices, andererseits durch Fortbildungsangebote der VDR-Akademie. Nicht zu vergessen ist die Digitalisierung: Innovative Technologien und digitale Prozesse spielen in einem modernen Mobilitätsmanagement eine entscheidende Rolle. Neben Weiterentwicklungen von Vertriebskanälen und der damit verbundenen Möglichkeiten für maßgeschneiderte Angebote, wird auch Künstliche Intelligenz Reisetechnologien und das Arbeiten im Travel Management stark beeinflussen.
HOLM-Blog: Nachhaltige, klimaneutrale Mobilität ist ein Megatrend, inwieweit betrifft das die Geschäftsreisen? Haben Unternehmen ihre Vorgaben für Geschäftsreisen ihrer Beschäftigten dahingehend verändert?
Jens Schließmann: Ich würde das nicht mehr nur als einen Trend bezeichnen: Nachhaltiges Planen und Handeln sind heute eine Notwendigkeit. Nachhaltige Unternehmensmobilität ist nicht mehr wegzudenken. Nachhaltigkeit strategisch zu verankern, ist mit dem Inkrafttreten der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) [4] gestiegen. Immer mehr Unternehmen setzen sich aktiv für Umweltschutz und soziale Verantwortung ein und planen konkrete Maßnahmen für die geschäftlich bedingte Mobilität. Außerdem hat der Gesetzgeber die Dringlichkeit in den letzten Jahren durch strengere Auflagen manifestiert und Unternehmen sind aufgefordert Ihren CO2-Fußabdruck zu dokumentieren und zu senken. Um unsere Mitglieder bei der Umsetzung zu unterstützen, hat der VDR ein eigenes Nachhaltigkeitsgremium etabliert. Hier geht es darum, die betriebliche Mobilität zukunftsfähig und klimaschonend auch gemeinsam mit unseren Mitgliedern (Nachfragern und Anbietern) zu gestalten. Denn: Um sowohl die geschäftlichen Vorgaben als auch die Klimaziele zu erreichen, müssen sich alle Beteiligten mit Engagement und innovativen Prozessen diesen Zielen nähern.
HOLM-Blog: Vielen Dank für das Gespräch.
Quellen
[1] Am 5. Mai 2023 erklärte die WHO, die am 30. Januar 2020 erklärte gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite COVID-19 für nicht mehr gegeben. (Quelle: Wikipedia)
[2] MICE ist ein Akronym aus dem Englischen, das für Meetings, Incentives, Konferenzen (Conventions) und Ausstellungen (Exhibitions) steht. (Quelle: Wikipedia)
[3] Workation – aus Arbeit (work) und Urlaub (vacation) – bezeichnet eine Form der Arbeit, bei der sich Arbeitnehmende an einem anderen (Urlaubs-)Ort befinden, um dort ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen oder sich dort mit Kolleg*innen zu treffen. (Quellen: siehe etwa haufe.de oder hrworks.de)
[4] CSR-Richtlinie: Seit 2017 sind große, kapitalmarktorientierte Unternehmen sowie Banken und Versicherungen in der EU dazu verpflichtet, eine sogenannte „nichtfinanzielle Erklärung“ zu erstellen. Darin haben sie die von ihnen verfolgten Konzepte, Risiken und Leistungsindikatoren in Bezug auf Umwelt, Arbeitnehmerbelange, soziale Belange, Menschenrechte und Korruption darzulegen. In Deutschland betrifft dies rund 500 Unternehmen. (Quelle: Umweltbundesamt)