„Kund*innen müssen akzeptieren, dass Logistik Geld kostet“ – Prof. Johanna Bucerius und Prof. Monika Futschik über nachhaltige Logistik
Heute kommt keine Branche mehr darum herum, ihre Prozesse und Produkte in Bezug auf Nachhaltigkeit auf den Prüfstand zu stellen. Die Logistik- und Transportbranche tut sich dabei im Vergleich zu anderen Sektoren bisher schwer – die Umstellung hin zu mehr Klima- und Umweltverträglichkeit, neuen, nachhaltigen Lösungen und weniger CO2-Emissionen geht nur langsam voran.
Das beobachten auch die beiden Logistikexpertinnen Prof. Dr. Monika Futschik und Prof. Dr. Johanna Bucerius von der Hochschule Darmstadt. Sie betonen aber auch, dass sich die Logistik mit ganz besonderen Herausforderungen auseinandersetzen muss und sich in bestimmten Bereichen bereits durchaus Veränderungen feststellen lassen. Im Interview sprechen die beiden Logistik-Professorinnen über Best-Practice-Beispiele, über die Probleme, mit denen die Branche konfrontiert ist, über die Sinnhaftigkeit von staatlichen Regulierungen und über wünschenswerte Entwicklungen in den kommenden Jahren auf dem Weg hin zu einer „grünen Logistik“.
HOLM-Blog: Nachhaltigkeit im Sinne eines ökologischen und klimaneutralen Handelns ist heute über alle Branchen hinweg ein wichtiges Thema und wird in Zukunft weiter an Relevanz gewinnen. Für viele Unternehmen bedeutet das eine Anpassung bisheriger Ansätze, Strategien und Maßnahmen. Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand im Bereich Logistik – wie nachhaltig ist die Branche bereits?
Monika Futschik: Nach einer Analyse der LBBW Research vom November 2022 sehen wir, dass andere Branchen – allen voran die Lebensmittelbranche – Treibhausgase effektiver und schneller reduzieren konnten als die Logistikbranche. Nach der coronabedingten Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Jahr 2020 sind die Emissionswerte laut Schätzungen im Jahr 2022 sogar noch deutlich weiter gestiegen: auf 150 Millionen Tonnen CO2. In der Logistikbranche geht es also nicht so schnell voran mit der Treibhausgasreduzierung wie in anderen Branchen, aber Logistik muss sich eben auch mit ganz besonderen Herausforderungen auseinandersetzen.
Johanna Bucerius: Bei der Entwicklung der CO2-Emissionen wird insbesondere der Verkehr kritisiert. Er habe es seit 1990 nicht geschafft, die Emissionen signifikant zu senken. Was dabei nicht berücksichtigt wird, ist, dass die Verkehrsleistung im Güterverkehr im selben Zeitraum um 75 Prozent gestiegen ist und im Personenverkehr um 30 Prozent. Das heißt, der Verkehr ist leistungsfähiger und emissionsärmer geworden. Nichtsdestotrotz müssen die Emissionen in ihrer Gesamtheit aus Gründen des Klimaschutzes reduziert werden. Hier muss etwas getan werden, insbesondere bei einem zu erwartenden weiteren Anstieg der Verkehrsleistung. Im Bereich der unternehmensinternen Logistik geht es um den Betrieb von Förder- und Lagersystemen und den dafür benötigten Strom. Hier sehen wir einen zunehmenden Trend in Richtung erneuerbare Energien, in vielen Fällen über Solaranlagen auf dem eigenen Lager. Die gestiegenen Energiekosten drängen Unternehmen zusätzlich dazu, den Stromverbrauch zu reduzieren. Hier wurde und wird bereits viel erreicht.
HOLM-Blog: Was sind die größten Herausforderungen für Logistikunternehmen – auch im Vergleich zu anderen Branchen – auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit?
Monika Futschik: Zum einen ist die Logistikindustrie überwiegend von KMU mit weniger als 250 Beschäftigen geprägt. Gerade in den letzten Jahren waren diese Unternehmen stark mit der Krisenbewältigung und den Herausforderungen des Tagesgeschäftes beschäftigt, sodass strategische Weiterentwicklungen und Entscheidungen zu Gunsten der Nachhaltigkeit nicht getroffen wurden. Hier fehlt es also nicht unbedingt an Veränderungsbereitschaft, sondern vielmehr an den notwendigen Ressourcen und Skills. Und an vielen Stellen ist die Profitmarge zu gering, als dass Investitionen, beispielsweise in E-Antriebe, hätten finanziert werden können.
Johanna Bucerius: Hinzukommt der Technologiewandel. Welche Antriebsform wird sich im Verkehr durchsetzen? Als kleines Unternehmen kann ich es mir nicht leisten, auf die falsche Technologie zu setzen. Da zögern viele Unternehmen aktuell noch.
Monika Futschik: Zum anderen fällt den Kurier-, Express- und Paketdienstleistern das steigende Sendungsaufkommen, auch getrieben durch den eCommerce, auf die Füße. Privatkund*innen sind es in diesem Bereich seit Jahren gewohnt, schnellere Lieferungen zu immer günstigeren Preisen und zum Teil kostenlos zu erhalten. Aber Logistikdienstleistungen wie Transport oder Lagerung sind nicht kostenlos. Hier wurden völlig falsche Anreizsysteme suggeriert. Kund*innen müssen sich daran gewöhnen und akzeptieren, dass Logistik Geld kostet und eine nachhaltige Logistik zum Teil teurer und auch mit geringerem Servicegrad einhergeht. Beispielsweise sind mehrfache Zustellversuche oder kostenlose Retouren im Sinne der Nachhaltigkeit eben nicht machbar. Im Industriebereich sehen wir, dass mit der Veränderung auf die Losgröße eins, also der Sonderanfertigung zu den Kosten einer Massenfertigung, die Sendungsvolumen sinken und sich die Sendungsanzahl erhöht. Unterm Strich bedeutet auch dies mehr Sendungen und damit einen höheren CO2-Ausstoß.
HOLM-Blog: Welche positiven Entwicklungen konnten Sie in den vergangenen Jahren bei der Transformation hin zu einer „grüneren Logistik“ beobachten?
Monika Futschik: Im Bereich Intralogistik sehen wir, dass nachhaltige Konzepte beim Bauen neuer Lager berücksichtigt werden. Diese zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass smarte Beleuchtungstechnik, Solarzellen und moderne Heiz- und Kühlsysteme gekoppelt installiert werden, um die Energie vor Ort selbst zu erzeugen. Das ist insbesondere bei Tiefkühl- und Kühllägern besonders wichtig, da hier große Energiemengen benötigt werden. Ausnahmeprojekte wie das von Alnatura gebaute Hochregallager in Lorsch, das komplett aus Holz besteht und ohne zusätzliche Wärme und Kühlung auskommt, stellen noch Leuchtturmprojekte dar, aber sie zeigen, was möglich ist.
Johanna Bucerius: Viele Unternehmen haben den Wertewandel in der Gesellschaft und den Wunsch der Kund*innen nach mehr Nachhaltigkeit erkannt. Sie sehen das Thema Nachhaltigkeit als Möglichkeit, um sich im Wettbewerb gegenüber den Kund*innen zu differenzieren und als Arbeitgeber für junge Menschen attraktiv zu sein. Hinzu kommen zunehmende Regulierungen sowie die Erfassung und Veröffentlichung der Emissionen in Nachhaltigkeitsberichten. Viele Unternehmen sind deshalb offen dafür, neue Konzepte auszuprobieren. Nehmen Sie zum Beispiel die KEP-Branche, die eine Vielzahl von emissionsarmen Innovationen testet und hier auch mit den Kommunen zusammenarbeitet. Und das Thema Radlogistik wird stark vorangetrieben.
HOLM-Blog: Von der Beschaffung über die Produktion und Lagerung bis hin zur Distribution – die Lieferkettenprozesse sind äußerst komplex. Auf welchen Etappen der Supply Chain ist die Umsetzung von nachhaltigen Lösungen bereits gelungen? Wo hakt es hingegen noch?
Monika Futschik: Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Nachhaltigkeit mit Transparenz über die gesamte Lieferkette einhergeht. Hier ist die Logistik im Bereich Distribution sicherlich schon deutlich weiter als in der Beschaffung. Was unter anderem daran liegt, dass die Beschaffung der Daten von Lieferanten und Zulieferanten verhältnismäßig schwieriger ist, insbesondere bei der globalen Beschaffung.
Johanna Bucerius: Neben der Distribution sehe ich auch in der Produktion ein immer stärkeres Bewusstsein für Nachhaltigkeit. So geht es bei der Produktion der Produkte um nachhaltige Rohstoffe, die wiederverwendbar sind oder bereits aus recycelten Materialien bestehen. Wie bereits erwähnt, wird auch bei der Stromversorgung der Produktion Energie aus nachhaltigen Quellen genutzt. Das Lieferkettensorgfaltsgesetz wird im Bereich der Beschaffung in der nächsten Zeit sicherlich für mehr Transparenz und darauf aufbauend zu mehr Nachhaltigkeit auch im internationalen Kontext sorgen.
HOLM-Blog: Wer wird diese Probleme und Aufgaben lösen: die Marktteilnehmer oder bedarf es hier staatlicher Eingriffe und Regulierung?
Monika Futschik: Hier sind beide gefordert. Einerseits fördert die Bundesregierung mit dem Zukunftspaket unter anderem den Ausbau von grünen Lkw-Flotten und von Elektromobilität und unterstützt die Forschung von Wasserstoffantrieb. Von der EU sehen wir, dass die Treibhausgasemissions-Grenzen für große und schwere Fahrzeuge weiter reduziert werden, bis 2030 bis 30 Prozent im Vergleich zu 2019. Aber ich finde, man darf zurecht argumentieren, dass alles viel zu langsam geht und an manchen Stellen zu konservativ. Gerade in den kommunalen und städtischen Bereichen machen es andere vor, wie es gehen kann. Denken wir daran, wie in Paris innerhalb weniger Jahre ganze Straßen für Autos gesperrt wurden, um Fahrrädern Vorfahrt zu gewähren. Die Lösungen sind da, es braucht hier mehr Umsetzungsstärke.
Falsch wäre es nun aber auch seitens Markteilnehmer*innen nichts zu tun und abzuwarten, bis schärfere politische Vorgaben und Regeln kommen. Gerade im Zusammenhang mit der Digitalisierung, zum Beispiel im Bereich Tourenplanung oder Auslastungen von Fahrzeugen, können Unternehmen bereits unabhängig von politischen Vorgaben loslegen und Emissionen reduzieren. Warten darf niemand.
Johanna Bucerius: Wünschenswert wäre es natürlich, wenn Gesetzgeber und Konsument*innen an einem Strang ziehen. Wenn sich die Konsument*innen für nachhaltigere Produkte und Transporte entscheiden und parallel dazu ein effektiver CO2-Zertifikatehandel bzw. eine effektive CO2-Steuer eingesetzt werden, dann wäre das der größte Hebel.
HOLM-Blog: Welche Entwicklungen wünschen Sie sich für die kommenden fünf Jahre am dringlichsten?
Monika Futschik: Ich würde mir drei Entwicklungen stärker wünschen. Erstens große Konzerne, die vorangehen und zeigen, dass Nachhaltigkeit alle angeht. Stellen wir uns die Multiplikationswirkung vor, die es hätte, wenn Amazon Kund*innen finanzielle Vorteile anbieten würde, wenn Bestellungen konsolidiert einmal pro Woche an eine Dropbox zugestellt werden anstatt täglich nach Hause. Zweitens wir alle ein Bewusstsein für unseren CO2-Fußabdruck entwickeln und „sharing instead of owning“ als echte Option wahrnehmen. Und drittens: mutige Vertreter*innen auf Bundes-, Landes und kommunaler Ebene.
Johanna Bucerius: Wenn wir uns dann noch als Wissenschaftler*innen an dem Prozess beteiligen und sowohl Anstöße für Innovationen geben als auch diese begleiten, dann könnten wir viel bewegen.
Vielen Dank für das Gespräch.