Die Luftfahrt sieht sich aktuell mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert – die Corona-Pandemie hat den weltweiten Flugverkehr zum Erliegen gebracht, die Lieferketten im Frachttransport sind angespannt, der Druck beim Thema „nachhaltiges Fliegen“ steigt stetig und der Fachkräftemangel in der Luftverkehrswirtschaft spitzt sich zu.

Wie geht es der Branche vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten momentan? Welche Entwicklungen finden derzeit statt und welche Trends lassen sich verzeichnen. Darüber haben wir mit Prof. Dr. Tobias Grosche von der Hochschule Worms gesprochen. Er ist Professor für Luftverkehrsmanagement und Leiter des MBA-Studiengangs „Aviation Management“ und hat die aktuelle Situation für uns eingeordnet.

HOLM-Blog: Die Corona-Pandemie hat die internationale Luftfahrtindustrie schwer gebeutelt. Mit den Auswirkungen hatte die Branche auch im vergangenen Jahr noch deutlich zu kämpfen. Nun kehren die Passagiere aber wieder verstärkt zurück. Wie ist es derzeit um den Fluggastverkehr bestellt?

Tobias Grosche: Aktuell liegen die Passagierzahlen nur noch knapp unter denen des Vorkrisenniveaus und es wird ein starker Reisesommer erwartet. Die Erholung hat somit deutlich schneller und stärker stattgefunden, als zunächst erwartet und wurde vor allem durch Privatreisen getrieben. Der Geschäftsreisemarkt hinkte dieser Entwicklung zwar zunächst hinterher, aber auch hier ist das Vorkrisenniveau nicht mehr allzu weit entfernt.

HOLM-Blog: Wie steht es speziell um Kurzstreckenflüge? Täuscht der Eindruck, dass mit Corona eine Verlagerung von der Flug-Kurzstrecke auf die Schiene stattgefunden hat? Und wie schätzen Sie die Zukunft von Kurzstreckenflügen ein?

Tobias Grosche: Insbesondere Flüge innerhalb Deutschlands haben noch einen schwereren Stand. Viele dieser Flüge werden typischerweise für Geschäftsreisen genutzt. Hier hat eine Verlagerung auf die Schiene sowie ein Ersatz durch Online-Meetings stattgefunden – gerade für den innerbetrieblichen Austausch und von Unternehmen, die ihre Reisetätigkeit klimafreundlicher gestalten möchten.

Aber man darf nicht vergessen, dass Kurzstreckenflüge auch häufig als Zubringer für die Langstrecke dienen und insofern gerade für Städte, bei denen keine ausreichende Nachfrage für Direktflüge besteht, Reisen zu entfernten Destinationen ermöglichen. Fielen diese kurzen Zubringerflüge weg, bestünde die Gefahr, dass sie durch längere Zubringerflüge zu dann anderen Umsteigeflughäfen ersetzt würden. Eine Flug-Flug-Verbindung ist nach wie vor häufig einfach die attraktivere Alternative zur Anreise mit der Bahn, da bei dieser noch keine nahtlose Reise inklusive Gepäcktransport und Anschlussgarantie möglich ist.

Portraitfoto Tobias Grosche
Seit knapp zehn Jahren ist Tobias Grosche an der Hochschule Worms tätig. Zu seinen Lehr- und Forschungstätigkeiten zählen die Bereiche Netzwerk- und Flugplanung, Flight Operations, Aviation Analytics und Nachhaltigkeit in der Luftfahrt. Foto: privat

HOLM-Blog: Während der Coronakrise wurden vermehrt Passagierflugzeuge für den Frachttransport eingesetzt. Dies hat während der Pandemie zumindest im Bereich Luftfracht für eine leichte Stabilisierung gesorgt. Derzeit befindet sich die Luftfracht allerdings in Turbulenzen, nicht zuletzt aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine – wie sind hier die Zusammenhänge und Perspektiven?

Tobias Grosche: Aktuell ist die Luftfracht im Vergleich zu Zeiten während der Corona-Pandemie zwar rückläufig, dies stellt in meinen Augen allerdings vor allem eine Normalisierung auf das für die Luftfracht übliche Niveau dar. Dabei muss man allerdings zugestehen, dass die Luftfracht schon immer recht volatil und anfällig war und von vielen Facetten gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen abhängig ist, die nicht immer einfach zu prognostizieren sind. Aktuell sind noch viele Lieferketten angespannt, so dass es meines Erachtens immer noch ausreichend Nachfrage für Luftfrachtkapazitäten gibt, die kurze Transportzeiten sicherstellen können.

Luftfracht Air Cargo
Laut dem Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) sank das Volumen der an deutschen Flughäfen verladenen Güter im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent. Damit verzeichnete die Sparte aber auch 2022 noch eine höhere Nachfrage als in den Jahren vor der Pandemie (Quelle: Pressemeldung BDL vom 8.2.2023). Mit rund 4,2 Millionen Tonnen verladener Güter war der Flughafen Hongkong im Jahr 2022 der weltweit größte Frachtflughafen, gefolgt von den US-Flughäfen Memphis und Anchorage (Quelle: Statista). Foto: Unsplash.com/Patrick Campanale

HOLM-Blog: Eine der größten Herausforderungen für die Luftfahrt ist zweifelsohne das Thema klimaneutrales Fliegen. Hier bedarf es in erster Linie einer Umstellung auf alternative Antriebsarten. Wie schnell geht die Umstellung voran und worin bestehen die größten Herausforderungen auf dem Weg hin zu einem nachhaltigeren Luftverkehr?

Tobias Grosche: Die Umstellung auf alternative Antriebe, also zum Beispiel die Nutzung von Wasserstoff, Batterien und Elektromotoren, ist meiner Einschätzung nach noch ein fernes Zukunftsszenario. Die technischen und operativen Herausforderungen sind in vielerlei Hinsicht enorm, von der Bereitstellung von grünem Strom beziehungsweise Wasserstoff über die notwendige Infrastruktur am Boden bis hin zum eigentlichen Flugzeugkonzept und Einsatzszenario. Und selbst die zukünftigen Flugzeugkonzepte zielen vor allem auf den Regionalflugverkehr ab, welcher aber nur einen kleinen Anteil an den Gesamtemissionen ausmacht und vermutlich – abgesehen von geographischen Sonderfällen – am ehesten mit alternativen Verkehrsträgern ersetzt werden kann. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, diese Technologien zu erforschen, da nach aktuellem Wissensstand nur ein Elektromotor in der Lage ist, ein Flugzeug klimaneutral anzutreiben, weil dieser keine Treibhausgase emittiert oder andere klimaschädlichen Effekte wie Kondensstreifen und daraus induzierte Wolkenbildung verursacht.  

HOLM-Blog: Welche weiteren Veränderungen sind Ihrer Einschätzung nach notwendig, um das Fliegen in Zukunft nachhaltiger zu gestalten?

Tobias Grosche: Bis sich neue und gegebenenfalls heute noch unbekannte technologische Entwicklungen großflächig durchsetzen, werden noch viele Flugzeuge mit klassischen Antrieben unterwegs sein. Um auch kurzfristig den ökologischen Fußabdruck dieser Flugzeuge reduzieren zu können, ist die verstärkte Verwendung von nachhaltigen Flugtreibstoffen, sogenannten Sustainable Aviation Fuels, notwendig. Die derzeit produzierten Mengen müssen dazu massiv gesteigert und dafür die Produktionskapazitäten erhöht werden. Das Problem ist dabei, dass die Produktion von SAF deutlich teurer ist als die von fossilem Treibstoff und somit bisher kein wirtschaftlicher Anreiz besteht, SAF einzusetzen. Ein Ausweg daraus können verpflichtende Beimischungsquoten sein, wie sie in Europa angedacht sind, und außerdem die Verschärfung bzw. Ausweitung des in der EU existierenden Emissionshandelssystems sein, welches die Gesamtmenge des CO2-Ausstoßes begrenzt. Allerdings zielen diese Maßnahmen nur auf den Ausstoß von CO2 ab und lassen andere klimarelevante Effekte wie Kondensstreifen unberücksichtigt.

HOLM-Blog: Wie ist es bei dem Thema „grünes Fliegen“ um die globale Zusammenarbeit bestellt? Findet diese statt oder tüfteln die einzelnen Länder und Flugzeugbauer für sich an neuen Lösungen?

Tobias Grosche: Das Thema „grünes Fliegen“ ist eine globale Herausforderung, und es gibt viele internationale Initiativen, das Fliegen nachhaltiger zu gestalten. Beispielweise gehen die Länder Europas mit dem Emissionshandel und SAF-Beimischungsquoten bereits gemeinsam voran. Und auch die internationale zivile Luftfahrtorganisation ICAO entwickelt Konzepte zur Reduktion der Klimawirkungen des Luftverkehrs. Allerdings werden auf dieser Ebene in erster Linie Rahmenbedingungen gesetzt. Die Entwicklung von technischen Lösungen liegt letztlich bei den einzelnen Anbietern, die damit auch in gewisser Weise im Wettbewerb um die besten Ansätze stehen, so dass Kooperationsansätze unterschiedlich ausgeprägt sind.

HOLM-Blog: Die Luftfahrt sieht sich also in den kommenden Jahren mit großen, weitreichenden Veränderungen konfrontiert. Ein entscheidendes Problem dabei ist auch der aktuelle – unter anderem durch Corona getriebene – Fachkräftemangel, sowohl beim Luft- und Bodenpersonal als auch beim technischen Luftverkehrsbetrieb und den Flugzeugbauern. Welche Auswirkungen sind dadurch bereits heute spürbar und wie können Fachkräfte (zurück-)gewonnen werden?

Tobias Grosche: Der Fachkräftemangel ist natürlich für viele Branchen eine wachsende Herausforderung. Für die Luftverkehrswirtschaft war dies besonders im letzten Jahr deutlich sichtbar, als es zu massiven Verspätungen kam. Je nach Aufgabengebiet gibt es dabei unterschiedliche Herausforderungen – angefangen von bürokratischen Prozessen und notwendigen Schulungen bei der Einstellung ungelernter Arbeitskräfte (auch aus dem Ausland) über eine oftmals geringere Attraktivität der Arbeitsbedingungen inklusive Arbeitsplatzsicherheit und Bezahlung im Vergleich zu anderen (boomenden) Branchen bis hin zu aufwendigen Qualifizierungsmaßnahmen für hochspezialisierte Aufgabenfelder.

Der Luftverkehrswirtschaft muss es gelingen, sich für mehr Menschen aus dem In- und Ausland zu öffnen und bestehende Eintrittshürden zu reduzieren. Auch müssen Arbeitsbedingungen und das Umfeld so attraktiv gestaltet werden, dass die veränderten Erwartungen und Bedürfnisse von jungen und talentierten Arbeitskräften zukünftig besser erfüllt werden. Dazu gehört insbesondere auch die konkrete Adressierung des Themas Nachhaltigkeit, um sich als zukunftsorientierte und -sichere Branche präsentieren zu können. Und letztlich geht es vor allem darum, Fachkräfte zu halten. Dazu gehören nicht nur rein finanzielle Anreize, sondern es geht auch um Zeichen der Wertschätzung und des „Sich Kümmerns“, zu denen beispielsweise Qualifikationsmaßnahmen und das Thema Weiterbildung gehören.

Viele Dank für das Gespräch.