Großstädten wird oftmals nachgesagt, sie haben die Nase vorn bei der Verkehrswende. Als Gründe hierfür werden zum Beispiel die Qualität des bereits bestehenden ÖPNV-Angebots oder die größere Zahl potenzieller Verbraucher*innen genannt. Im Gegensatz dazu steht der ländliche Raum, in dem der Nachholbedarf hinsichtlich Verfügbarkeit alternativer Mobilitätsangebote enorm ist und der deshalb in Politik und wissenschaftlicher Forschung wachsende Aufmerksamkeit erfährt.

Wie aber sieht es zwischen Großstadt und ländlichem Raum, also in Mittelstädten, aus? Das sind Städte mit 20.000 bis 100.000 Einwohner*innen. Von diesen gibt es deutschlandweit immerhin 624 Stück. 22 Prozent dieser Städte haben mehr als 50.000 Einwohner*innen, in den allermeisten leben weniger, nämlich zwischen 20.000 und 50.000 Menschen. Aber die Mittelstädte legen zu, zwischen 2011 und 2017 wuchsen sie laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) um 3,2 Prozent. [1]

Dr. Uli Molter ist als Verkehrsplaner bei der Stadt Oberursel (Taunus), einer „typischen Mittelstadt“, tätig. Mit ihm haben wir über die Eigen- und Besonderheiten, aber auch über Chancen von Mittelstädten und über konkrete Maßnahmen für die Verkehrswende in Oberursel gesprochen. Haben sie etwa das Potenzial Treiber der Verkehrswende zu sein?

HOLM-Blog: Herr Dr. Molter, Sie arbeiten als Verkehrsplaner in einer deutschen Mittelstadt. Welchen, für Städte dieser Größe typischen, Herausforderungen begegnen Sie in Ihrem Arbeitsalltag?

Uli Molter: Die Stadt Oberursel hat rund 48.000 Einwohnende, sie ist gegliedert in insgesamt vier Stadtteile. Die Vernetzung zwischen den einzelnen Stadtteilen ist sehr groß. Das ist typisch für Städte dieser Größenordnung, denn jeder dort Lebende nutzt die ganze Stadt und nicht nur das eigene Viertel plus Stadtzentrum. Der PKW zählt, zusammen mit den Fußverkehr, zu den Hauptverkehrsmitteln. Wege innerhalb Oberursels (Binnenverkehr) werden zu 36 Prozent zu Fuß und zu 38 Prozent mit dem PKW zurückgelegt. [2] Gleichzeitig gibt es sehr viele Hinweise auf eine zu hohe Verkehrsbelastung mit den entsprechenden Folgen, zum Beispiel Lärmbelastung und ein erhöhtes Gefahrenpotenzial.

Foto von Wirtschaftsgeograph Dr. Uli Molter
Verkehrswende als Beruf und Berufung: Der Wirtschaftsgeograph und Alltagsradler Dr. Uli Molter engagiert sich beruflich und privat für eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsplanung. Bild: privat.

HOLM-Blog: Wo setzen Sie an, um diese Herausforderungen zu lösen? Welche Interessen nehmen Sie wahr, wie werden diese in der Planung und Umsetzung berücksichtigt?

Uli Molter: Im Sinne einer integrierten Planung versuchen wir Verkehre zu vermeiden, Verkehre zu verlagern oder Verkehre verträglich abzuwickeln (VVV). Vermeiden können wir Verkehre, indem Stadt- und Verkehrsplanung eng zusammenarbeiten und zum Beispiel bei der Gestaltung von Bebauungsplänen auf eine ausgewogene Nutzungsmischung und hohe Aufenthaltsqualität achten. Da unsere Arbeit aber zu 99 Prozent im Bestand stattfindet, kommen dem zeitlichen, modalen und räumlichen Verlagern sowie dem verträglichen Abwickeln eine ganz besondere Rolle zu.

Dabei greifen wir auf die klassischen Instrumente des Mobilitätsmanagements zurück: Durch „weiche“ Maßnahmen versuchen wir, den Menschen Alternativen zum PKW aufzuzeigen und die Attraktivität dieser Alternativen nachhaltig zu steigern.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „pimoo – Plattform für integrierte Mobilität Oberursel“ erarbeiten wir dazu mehrere Instrumente.

Unsere Stellplatzsatzung erlaubt es etwa, die Zahl der PKW-Stellplätze zu reduzieren, wenn Bauherren Carsharing, Mietertickets oder einen Fahrradverleih anbieten. Eine Möglichkeit zur Beratung wird gerade erarbeitet. Sie soll Bauherren künftig aufzeigen, wie sie alternative Verkehrsformen fördern können.

Des Weiteren entwickeln wir eine kostenfreie App, mit der Nutzende ihre Wege aufzeichnen können, um im Anschluss über mögliche Alternativen, wie etwa eine passende ÖPNV-Verbindung, informiert zu werden.

Neben VVV und konkreten Maßnahmen ist für uns außerdem von hoher Bedeutung, die lokale Politik einzubeziehen und Stadtverordneten, sie sind die Entscheider*innen, die Zusammenhänge verkehrlicher Planung zu verdeutlichen. Hierzu haben wir eine Vorlesungsreihe von Wissenschaftler*innen für Mandatsträger*innen entwickelt, in der grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse, auf Oberursel heruntergebrochen, vorgestellt und diskutiert werden. Diese direkte Ansprache wird durch einen öffentlich abrufbaren Wissensspeicher ergänzt, in dem wir Verkehrsdaten, Verkehrsuntersuchungen und ähnliches verfügbar machen.

Und damit bewegen wir uns schon Richtung Bürgerinnen und Bürger: Die Stadtverordnetenversammlung hat 2021 ein Verkehrliches Leitbild mit sieben Leitzielen beschlossen. Erarbeitet wurde es im Vorfeld in unterschiedlichen Formaten gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt.

Für die parlamentarische Arbeit und die Öffentlichkeit erarbeiten wir zudem ein Bewertungstool, das anhand ausgewählter Indikatoren aufzeigt, in welcher Form zu beschließende verkehrliche Maßnahmen (z. B. die Einführung von Carsharing, die Neugestaltung von Straßenräumen, Ladeinfrastruktur etc.) zur Erreichung der beschlossenen Ziele beitragen. Das schafft Transparenz und macht die Entscheidungsfindung (hoffentlich) einfacher.

HOLM-Blog: Stichwort Bürgerbeteiligung: Warum ist diese (gerade beim Thema Verkehr) so wichtig und fällt es Mittelstädten leichter als Großstädten, ihre Bürger*innen zu beteiligen?

Uli Molter: Gerade bei der Straßenraumgestaltung ist die Beteiligung der Bevölkerung sehr wichtig. Straßen planen wir heute für die kommenden 40 bis 50 Jahre, d. h. wir müssen klimaresiliente Straßen und Plätze, Flächen für den ÖPNV und andere nachhaltige Verkehrsmittel planen und – im besten Fall – eine multifunktionale Nutzung ermöglichen.

Diese Umverteilung des öffentlichen Raums, häufig weg vom (parkenden) motorisierten Individualverkehr (MIV), geht natürlich nicht ohne Vorbehalte, Ängste oder Unsicherheiten einher. Unsere Aufgabe ist es, die vorgesehenen Veränderungen zu erklären, Lösungswege aufzuzeigen und Hinweise aufzunehmen und zu prüfen. Sehr wichtige Instrumente sind gut lesbare Pläne, Visualisierungen und eben eine gute Erläuterung. Auch Ortstermine, um uns „live und in Farbe“ mit Stakeholdern auszutauschen, sind sinnvoll und vertrauensfördernd. Anschließend erreicht uns Kritik und Lob, aber insbesondere eine Vielzahl an Wünschen und Hinweisen, die natürlich nie alle gleichzeitig umsetzbar sind. Unsere Aufgabe ist es dann, transparent abzuwägen und wiederum zu erläutern, warum einzelne Aspekte nicht oder weniger berücksichtigt werden konnten. Herausfordernd ist es stets, berechtige Interessen von sehr individuellen Einzelinteressen zu trennen und den Blick für das Ganze nicht zu verlieren. Nicht unterschätzen darf man den sehr hohen personellen und finanziellen Aufwand. Wir machen das schließlich nicht als Verkehrsplaner*innen im Alleingang, sondern in enger Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen, wie etwa der Kommunikation.

Ja, vielleicht fällt uns die Bürgerbeteiligung leichter als anonymeren Großstädten. In Mittelstädten „kennt man sich“ und die Wege zwischen Stakeholdern und der Verwaltung und Politik sind kurz. Das erleichtert viele Abstimmungsprozesse. Andererseits müssen mögliche Einzelinteressen immer im Blick bleiben, gegebenenfalls wiegen sie bei uns schwerer.

Auszug aus Informationsheft zu Bürgerbeteiligung zur Neugestaltung der Eppsteiner Straße
Bürger*innen informieren und aktivieren. Oberursel setzt auf dem Weg zur Verkehrswende auf Bürgerbeteiligung. Neben Apps und digitalen Plattformen erfolgt die Ansprache auch mithilfe klassischer Instrumente, wie Plakate und Bürgerversammlungen. Bilder: Stadt Oberursel.

HOLM-Blog: Großstädten wird (z. B. aufgrund bereits vorhandener ÖPNV-Infrastruktur) die Verkehrswende am schnellsten zugetraut. Der ländliche Raum rückt immer mehr ins Blickfeld, da dort ein riesiger Handlungsbedarf beim Ausbau eines alternativen Angebots zum motorisierten Individualverkehr erkannt wird. Wo bewegen sich da die Mittelstädte? Kann die Verkehrswende dort vielleicht sogar schneller gelingen?

Uli Molter: Ein befreundeter Professor der Verkehrsplanung sagte mir mal: „Die Verkehrswende wird in den Mittelstädten gewonnen oder verloren!“ Da ist meines Erachtens viel dran. Natürlich haben Großstädte meistens ein sehr gutes ÖPNV-Netz, diverse Sharing-Angebote oder eine fordernde Bürger*innenschaft, die zum Beispiel im Rahmen von Radentscheiden eine Verkehrswende einfordern. Gleichzeitig sind die Verwaltungen in Großstädten häufig sehr sektoralisiert, was es schwierig macht, Querschnittsaufgaben, wie die Verkehrswende, zu steuern.

In einigen Mittelstädten fällt es sicher leichter, die Verkehrswende voranzutreiben. Ich denke da vor allem an solche, die in Ballungsräumen liegen, so wie Oberursel. Sie sind mit einem für die Größe exzellenten ÖPNV-Angebot ausgestattet und bringen damit gute Voraussetzungen mit, bei der Verkehrswende ganz vorne mit dabei zu sein. Neben der guten Ausgangslage „ÖPNV-Angebot“ liegen die Gründe hierfür in sehr viel kürzeren vertikalen und horizontalen Entscheidungswegen. So ist es für die Verkehrsplanung möglich, auf fachlicher Basis Entscheidungen vorzubereiten, die politische Debatte zu verfolgen, Rückfragen zu beantworten, Bürgerbeteiligungen durchzuführen, um dann schlussendlich auch die Umsetzung (je nach Maßnahme) zu begleiten. Die dort gewonnenen Erkenntnisse darüber, was sich bewährt hat und was angepasst werden sollte, sind unsere „lessons learnt“ für nachfolgende Maßnahmen.

Sofern also der politische Wille, oder besser: Mut, vorhanden ist, können kleinere Städte gerade in Ballungsräumen Vorreiter der Verkehrswende sein. Voraussetzung dafür ist aber auch eine gute Personalausstattung in den Verwaltungen. Hier bedarf es Personen, die den fachlichen Hintergrund integrierter Verkehrsplanung mitbringen und vor Ort auch die nötigen Ressourcen erhalten. Das ist in sehr vielen Städten meines Wissens nach nur bedingt der Fall.

HOLM-Blog: Noch einmal zurück zur Bürgerbeteiligung: Können Sie zwei konkrete Beispiele nennen, wo welches Problem mit Beteiligung der Anwohner*innen bis wann gelöst werden wird?

Uli Molter: Aktuell bereiten wir zwei Versuche vor, um gemeinsam mit Bürger*innen eine neue Straßenraumgestaltung zu entwickeln. Versuchsfeld 1 ist die Eppsteiner Straße. Sie ist etwa 300 m lang und stellt einen wichtigen Zugang zum historischen Marktplatz in Oberursels Altstadt dar. Die Anforderungen an die Straßen sind vielfältig und reichen von einer wichtigen innerörtlichen Verbindung für den MIV über eine ÖPNV-Achse bis hin zu Schulweg und Aufenthaltsflächen in denkmalgeschütztem Umfeld. In einer ersten Bürgerbeteiligung haben wir mithilfe von Plakaten, Postkarten und Diskussionsveranstaltungen usw. eine Vorzugsvariante entwickelt. Diese soll ab Sommer diesen Jahres als Verkehrsversuch mit temporären gestalterischen Elementen und Interventionen (also Aktionen vor Ort) für ein Jahr umgesetzt und getestet werden. Verläuft die Evaluation der Ergebnisse im Anschluss positiv, folgt der dauerhafte Umbau der Straße.

An anderer Stelle haben wir in einem interdisziplinären Ansatz versucht, die „Quartiersstraße der Zukunft“ zu entwickeln. Es handelt sich hierbei um Straßen in einem über Jahrzehnte gewachsenen Wohngebiet in der Nähe der Oberurseler Innenstadt. Die Straßenräume entsprechen nicht mehr heutigen Anforderungen, es handelt sich um eine wichtige Fahrradroute und wir haben mehrere Schulen mit besonderen Verkehren im Quartier. Außerdem sind Gehwege und Knoten häufig sehr dicht beparkt.

3D-Entwurf Straßengestaltung
So könnte die Quartiersstraße der Zukunft einmal aussehen. Dieser Entwurf zeigt einen möglichen Vorschlag zur Gestaltung der Ecke Freiligrathstraße/Erich-Ollenhauer-Straße in Oberursel. Bild: Studio Janina Albrecht.

Die gesamtheitliche Lösung wurde mithilfe von drei aufeinander abgestimmten Gutachten entwickelt: Ein Parkraumkonzept schlägt Bewohner*innenparken und eine Bewirtschaftung vor, um „gebietsfremde“ PKW-Parker zu motivieren, dafür vorgesehene Parkeinrichtungen (Parkplätze, Tiefgarage) zu nutzen und so den öffentlichen Straßenraum zu entlasten.

Das zweite Konzept sieht die Einrichtung von STVO- und richtlinienkonformen Fahrradstraßen und einem Konzept zu PKW-Einbahnstraßen vor, um dem Rad- und Fußverkehr den gewünschten Platz zu geben.

Das dritte Konzept (Gestaltungshandbuch) macht schließlich viele konkrete Vorschläge, wie die Straßenräume zukunftsfähig gestaltet werden können. Die Vorschläge umfassen neben Aussagen zu klimaresilienten Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität (Verschattungen, Wasser, Bänke, Spieleinrichtungen, versickerungsfähige Materialien etc.) insbesondere ein Gestaltungskonzept, welches Fahrradstraßen als solche erkennbar machen soll. Es gibt durchgehende Gestaltungselemente, die allen Verkehrsteilnehmenden deutlich machen, dass sie sich in einer Fahrradstraße befinden. Beispiele sind türkisfarbene Leitlinien, die Markierung der für Radfahrende gefährlichen Dooring-Zone oder besondere Markierungen an den Eingängen und an Knoten der Fahrradstraßen. Das Konzept soll stufenweise umgesetzt und erprobt werden. Anfangs werden mit temporären Einrichtungen die Wirksamkeit und Nützlichkeit der einzelnen Elemente erprobt, um sie in der letzten Umsetzungsstufe baulich mit nachhaltigen Materialien umzusetzen. Eine Beteiligung der Anwohnenden und Nutzenden sowie der Politik ist ein wichtiger Baustein, um in diesem lernenden Prozess zu einem sehr guten Ergebnis zu kommen.

Das Gestaltungshandbuch soll auch in anderen Straßen Oberursels zum Einsatz kommen, und so die Wiedererkennung deutlich einfacher machen.

HOLM-Blog: Sind Ihre Ideen und Ihr Vorgehen übertragbar? Wird Oberursel bei der Umsetzung der Verkehrswende so zum Vorbild für andere Mittelstädte?

Uli Molter: Das würde uns natürlich freuen! [lacht] Sicherlich bringt jede Stadt eigene Voraussetzungen mit und hat ihre ganz eigenen Besonderheiten, Vorlieben und Vorgehensweisen. Unsere Instrumente und Prozesse können aber sicher auch an anderen Orten funktionieren oder entscheidende Impulse zur eigenständigen Weiterentwicklung geben. Unsere Stellplatzsatzung zum Beispiel, wird im Rahmen eines Seminars am Deutschen Institut für Urbanistik als ein „best practice“ vorgestellt.

Die Umsetzung der Verkehrswende steckt voller Herausforderungen und offener Fragen. Die Verwaltungen und die Politik der Kommunen sowie der Länder sollten dazu unbedingt einen engen und offenen Austausch pflegen, um gegenseitig von bereits gemachten Erfahrungen zu profitieren. Wir stehen dazu gerne und jederzeit zur Verfügung.

Vielen Dank für das Gespräch.