Seit einigen Jahren steigt die Nachfrage nach regionalen Lebensmitteln. Laut des Ernährungsreports 2022 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) sind regionale Lebensmittel für 45 Prozent der Bürger*innen sehr wichtig oder wichtig. Längst sind regional erzeugte Produkte nicht mehr nur auf dem Wochenmarkt oder im Hofladen, sondern auch in Supermärkten zu finden. Und nicht nur Endkonsument*innen, sondern auch die Außer-Haus-Verpflegung, insbesondere betriebliche und städtische Kantinen und die Gastronomie, legen mehr Wert darauf, regional einzukaufen.

Die Herausforderungen einer umfassenden flächendeckenden Versorgung mit regionalen Lebensmitteln sind aktuell jedoch noch vielseitig. Es herrschen erhebliche regionale Versorgungsunterschiede in Bezug auf die Art der Produkte, die Maße und die Qualität. Zudem fehlen konkurrenzfähige Lieferketten in vielen Fällen bisher komplett. 

Dr. Anna-Mara Schön von der Hochschule Fulda analysiert im Rahmen des Forschungsprojekts LogRegio – Regionale Produkte für die Stadt, das von der Innovationsförderung der House of Logistics and Mobility (HOLM) GmbH unterstützt wird, Rahmenbedingungen für effiziente regionale Wertschöpfungsketten in der Rhein-Main-Region. Mit ihr haben wir über Herausforderungen von Logistikprozessen im regionalen Lebensmittelbereich, die Integration regionaler Erzeugnisse in Kantinenabläufe und die Vorteile beim Bezug regionaler Lebensmittel für alle beteiligten Akteure gesprochen.

HOLM-Blog: Welche Vorteile hat der Bezug regionaler Lebensmittel für Erzeuger*innen, Verbraucher*innen und die Wirtschaft?

Anna-Mara Schön: Es gibt Studien und Untersuchungen, die zeigen, dass regionale Landwirtschaftsinvestitionen einen erheblichen Multiplikatoreffekt haben können. Der genaue Betrag kann je nach Region und spezifischer Situation variieren, aber im Durchschnitt wird geschätzt, dass pro Euro, der in die regionale Landwirtschaft investiert wird, etwa fünf Euro an die Region zurückfließen können. Dieser Multiplikatoreffekt entsteht durch verschiedene Faktoren. Zum einen stärkt die regionale Landwirtschaft die lokale Wirtschaft, indem sie Arbeitsplätze schafft und Einkommen für Landwirtschaft Betreibende, Beschäftigte und Lieferant*innen generiert. Diese Menschen geben ihr Einkommen wiederum in der Region aus, was zu weiteren wirtschaftlichen Aktivitäten führt. Darüber hinaus trägt die regionale Landwirtschaft zur Stärkung der lokalen Versorgungssicherheit bei. Wenn Lebensmittel und andere landwirtschaftliche Produkte lokal produziert und konsumiert werden, reduziert sich die Abhängigkeit von externen Märkten und Transportwegen. Dies führt u. a. auch zu Einsparungen bei den Transportkosten und verringert gleichzeitig die Umweltauswirkungen, was wiederum gut für Mensch und Umwelt ist. Ein weiterer Aspekt ist die Förderung des Tourismus. Regionale Landwirtschaftsbetriebe können Besucher*innen anziehen, die das Interesse an lokalen Produkten und der ländlichen Lebensweise haben. Dies kann zu zusätzlichen Einnahmen für die Region durch den Tourismussektor führen.

Portraitfoto Dr. Anna-Mara Schön
Dr. Anna-Mara Schön ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda. Außerdem ist sie Botschafterin des von der EU finanzierten Projekts COCOREADO, das darauf abzielt, die Position von Landwirten und Landwirtinnen als individuelle Akteure, als Hauptakteure in innovativen Lebensmittelversorgungsketten und als Lieferanten für das öffentliche Beschaffungswesen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Bild: SK

HOLM-Blog: Mit welchen Herausforderungen sind die Logistikprozesse im regionalen Lebensmittelbereich verbunden?

Anna-Mara Schön: Bäuerliche Betriebe, die direkt an großen Städten liegen, haben selten Vermarktungsschwierigkeiten. Bäuerliche Betriebe in ländlichen Regionen hingegen schon. Herausforderungen sind unter anderem

  • die begrenzte Infrastruktur: Regionale Gebiete haben teilweise nicht die gleiche entwickelte Infrastruktur wie städtische Zentren. Dies kann den Transport von Waren erschweren, insbesondere wenn es an gut ausgebauten Straßen, Lagerhäusern oder Kühlketten mangelt;
  • Transportkosten: In ländlichen Gebieten sind die Entfernungen oft größer, was zu höheren Transportkosten führen kann. Dies kann die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit regionaler Lebensmittelproduzenten beeinträchtigen;
  • saisonale Verfügbarkeit: Regional angebaute Lebensmittel sind oft saisonal bedingt. Dies erfordert eine effektive Planung und Koordination, um sicherzustellen, dass die Nachfrage während der Saison befriedigt wird und gleichzeitig überschüssige Produkte nicht verschwendet werden. Auch das Verbraucher*innenverhalten ist hier maßgebend, denn die wenigsten Menschen ernähren sich rein saisonal bzw. verspüren gar kein Bedürfnis dazu, sich saisonal zu ernähren;
  • Lagerhaltung und Kühlketten: Die Aufrechterhaltung einer angemessenen Lagerhaltung und der Kühlkette für frische und verderbliche Lebensmittel erfordert eine spezielle Infrastruktur, Know-how und Technologien, um die Qualität und Frische der Produkte aufrechtzuerhalten;
  • Zusammenarbeit und Vernetzung: Um effiziente regionale Logistikprozesse zu ermöglichen, ist eine gute Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen den verschiedenen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette erforderlich. Dies umfasst Landwirt*innen, Lieferanten, Transportunternehmen, Einzelhändler*innen und andere Beteiligte.
  • Marktzugang und Vertrieb: Regionale Lebensmittelproduzent*innen müssen Zugang zu geeigneten Vertriebskanälen haben, um ihre Produkte an die Verbraucher*innen zu bringen. Dies kann den Aufbau von Beziehungen zu Einzelhändler*innen, Restaurants, Märkten oder Direktvertriebsmodellen erfordern. Auch an diesem Baustein setzt unser Projekt LogRegio an;
  • Regulatorische Anforderungen: Lebensmittellogistik unterliegt strengen Vorschriften und Qualitätsstandards, die erfüllt werden müssen. Auch die kleinen regionalen Produzent*innen müssen sicherstellen, dass sie mit den geltenden Vorschriften in Bezug auf Lebensmittelsicherheit, Etikettierung, Verpackung und Transport übereinstimmen.

HOLM-Blog: In Ihrem Forschungsprojekt „LogRegio“ beleuchten Sie die Prozesse regionaler Produkte für die hessische Region Rhein-Main. Welche Lebensmittel stellen bäuerliche Landwirtschaftsbetriebe dort vor allem zur Verfügung und welches Potenzial hat die Region – auch im Vergleich zu anderen deutschen Gegenden?

Anna-Mara Schön: Das herauszufinden ist Teil unseres LogRegio-Projekts GruFo. Tendenziell ist Hessen nicht gut aufgestellt. Im Norden werden vor allem tierische Erzeugnisse produziert und im Raum Darmstadt relativ viel Gemüse. Selbst versorgen können wir uns vor allem mit Getreide. Trotzdem fehlen uns die Mühlen wie auch regionale Molkereien für die hiesigen Milchmengen. Im Bio-Sektor sieht alles noch dramatischer aus. Nach und nach haben Weiterverarbeitungsbetriebe dicht gemacht und konzentrieren sich nun auf wenige Standorte, von denen die wenigsten in Hessen angesiedelt sind. Wir hoffen aber, dass durch die Verknüpfung von Angebot und Nachfrage Menschen motiviert werden, sich im regionalen Lebensmittelsektor, insbesondere im Bereich der Erzeugung und Weiterverarbeitung, anzusiedeln.

HOLM-Blog: Sie haben auch analysiert, wie regionale Erzeugnisse in Kantinenabläufe verstärkt einbezogen werden können. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Anna-Mara Schön: Kantinen leiden – insbesondere seit Corona – unter Personalmangel, was dazu führt, dass sie relativ unflexibel und dementsprechend eingeschränkt sind, wenn es darum geht, nicht vorverarbeitete Ware anzunehmen. Kurz: Wenn eine Küche schlicht das Personal nicht hat, Kartoffeln selbst zu schälen, braucht sie eben geschälte Kartoffeln. Auch ist vielen Küchen eine Anlieferung durch möglichst wenige Lieferanten wichtig. Es ist also nicht möglich, dass Erzeuger A Kartoffeln bringt, Erzeugerin B Möhren usw. Auch hier gilt: Wir brauchen regionale Logistiker*innen, die in Richtung Vollsortiment gehen, als Bindeglied. Wie genau nun Logistiknetzwerke aussehen könnten und wie wir regionale Erzeugnisse in vorhandene Strukturen einbinden können, sind Fragen, mit denen wir uns in unseren Projekten als nächstes beschäftigen werden.

In einer Kantine essen viele Leute Spaghetti Bolognese, Nahaufnahme auf dem Essen
Im Rahmen des Projekts LogRegio wurden im Sommer 2022 in zwei Kantinen Befragungen dazu durchgeführt, wie wichtig den Gästen die Labels Bio und Regionalität sind. Ergebnis: Fast alle Befragten haben angegeben, dass ihnen die Labels wichtig sind. Danach wurde in den beiden Kantinen, in denen die Erhebungen stattgefunden haben, (bio-)regional gekocht. Bei der Auswahl der Speisen war allerdings keine Veränderung erkennbar: die Menschen wählten nach Appetit, Hunger und Preis aus, nur für sehr wenige war Regionalität das entscheidende Auswahlkriterium. Bild: Pixabay.com/Hans

HOLM-Blog: Welche Maßnahmen sind am dringendsten erforderlich, um den verschiedenen Abnehmer*innen regionale Produkte zukünftig verstärkt zugänglich zu machen?

Anna-Mara Schön: Meines Erachtens ist es das Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen. Auf der einen Seite müssen Bewusstsein und Wertschätzung für regionale Produkte bei den Abnehmer*innen steigen. Informationskampagnen, Schulungen und Bildungsprogramme können helfen, die Vorteile regionaler Produkte zu vermitteln und das Verständnis für deren Bedeutung zu fördern.

Die Schaffung von Netzwerken und Plattformen, die regionale Erzeuger*innen und Abnehmer*innen zusammenbringen, erleichtert den Kontakt, den Austausch und die Geschäftsbeziehungen zwischen den Parteien.

Eine effiziente und kostengünstige Logistik ist wichtig, um regionale Produkte erfolgreich zu verteilen. Daher sprechen wir auch intensiv mit Logistiker*innen, dem (Bio)-Großhandel und potenziellen Bündler*innen, aber auch Erzeuger*innen, die Kapazitäten zum Bündeln und Transportieren haben. Ich vermute, dass es hierfür nicht die eine Lösung gibt, sondern die entsprechenden „Keyplayer“ pro Region identifiziert und mit einbezogen werden müssen.

Es gilt außerdem die Nachfrage von verschiedenen Vertriebskanälen zu identifizieren, wie Einzelhändler*innen, Restaurants, Catering-Unternehmen, Schulen und Krankenhäusern. Ohne zu wissen, wie hoch die Nachfrage für welche Produkte in welcher Verarbeitungsform ist, ist es schwer, die richtigen Angebote zu machen.

Wir sehen auch einen großen Hebel bei öffentlichen Einrichtungen. Dafür müssen aber öffentliche Beschaffungsrichtlinien angepasst werden. Daran an vielen Stellen europaweit gearbeitet. Für uns ist es wichtig, von solchen Anpassungen zu erfahren, um sie in unsere Projekte einfließen zu lassen. Politische Unterstützung generell ist von hoher Relevanz, u. a. durch finanzielle Unterstützung, steuerliche Anreize oder die Schaffung von Rahmenbedingungen, die den regionalen Sektor stärken und die Nachfrage nach regionalen Produkten erhöhen. In Frankfurt am Main arbeitet der Ernährungsrat beispielsweise am Aufbau eines House of Food. Das ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, reicht aber noch lange nicht aus.

Die Kombination dieser Maßnahmen kann dazu beitragen, den Zugang zu regionalen Produkten für verschiedene Abnehmer*innen zu verbessern und die Nachfrage zu steigern. Eine ganzheitliche Herangehensweise, die die Interessen und Bedürfnisse aller beteiligten Akteure berücksichtigt, ist entscheidend, um langfristige und nachhaltige Lösungen zu etablieren. Wer in diesem Bereich arbeiten will, muss gut vernetzt sein.

Vielen Dank für das Gespräch.

Vorgestellt wird das Projekt „LogRegio“ auch im Rahmen des 8. HOLM-Innovationsmarktplatzes, der am 5. September 2023 im House of Logistics and Mobility in Frankfurt am Main stattfindet.