„Die Berufsbilder verändern sich“ – Michael Kadow im Gespräch mit Claudia Dingethal über Strategien der Deutschen Bahn zur Gewinnung und Bindung von Fachkräften
Unternehmen aller Branchen stehen unter großem Druck, Fachkräfte fehlen auf allen Ebenen – auch in der Logistik- und Mobilitätsbranche. Laut Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sehen mehr als die Hälfte der Betriebe nach einer aktuellen Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags im Fachkräftemangel eine Gefahr für ihre Wertschöpfung. Welche Strategien die Deutsche Bahn verfolgt, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten, erzählt Claudia Dingethal, Interimsleiterin Strategische Personalentwicklung der Deutschen Bahn AG sowie Leiterin Qualifizierung Fahrzeugführende und Fahrzeugtechnik bei DB Training, Learning & Consulting, im Gespräch mit HOLM-Geschäftsführer Michael Kadow.
Michael Kadow: In welchem Maße spürt auch die Deutsche Bahn den Fachkräftemangel? Welche Bereiche sind besonders betroffen?
Claudia Dingethal: Grundsätzlich ist unser Ziel die Verlagerung vieler Verkehre auf die klimafreundliche Schiene. Nötig sind dazu auch neue Technologien und die Digitalisierung vieler Bereiche, Prozesse und Anwendungen. Dafür benötigen wir Spezialist*innen und Technikexpert*innen. Diese Fachkräfte zu finden, ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation eine Herausforderung. Hinzu kommt, dass wir einen sehr hohen altersbedingten Ausstieg der Baby-Boomer-Generation kompensieren müssen. Das heißt, wir haben grundsätzlich einen dringlichen Bedarf – insbesondere für die Bereiche Signaltechnik, Elektrotechnik, Stellwerkstechnik und IT.
Michael Kadow: Heißt das, dass alte Berufsbilder durch den Einsatz von Digitalisierung und beispielsweise durch das autonome Fahren nicht mehr dringend notwendig sind?
Claudia Dingethal: Ja und nein. Die Berufsbilder verändern sich. Wir haben derzeit verschiedene Pilotprojekte in der Umsetzung, zum Beispiel in Hamburg zum Thema „digitale Schiene“. Allerdings brauchen diese Projekte Zeit. Und bis diese abgeschlossen sind, benötigen wir weiterhin Lokführer*innen, Bereitsteller*innen und Stellwerkspersonal. Deshalb stellt die Deutsche Bahn weiterhin für diese Bereiche Personal ein. Allein dieses Jahr stellen wir insgesamt wieder 25.000 neue Mitarbeitende ein. Davon haben wir Anfang September 6.000 neue Nachwuchskräfte im Konzern willkommen geheißen, in 50 verschiedenen Berufsgruppen und in 25 verschiedenen dualen Studiengängen, um die verschiedenen Berufe – vor allem im MINT-Bereich – abdecken zu können.
Michael Kadow: 25.000 Fachkräfte pro Jahr! Das zeigt, wie hoch der Bedarf ist. Das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Welche Rolle spielt der Einsatz von ausländischen Fachkräften? Und ziehen Sie einen Nutzen aus der Chancenkarte?
Claudia Dingethal: Der zunehmende Einsatz von ausländischen Fachkräften ist ein wichtiges Thema für die Deutsche Bahn und bietet viele Chancen aber natürlich auch Herausforderungen. Zu den Chancen gehören auch die kulturelle Vielfalt, neue Perspektiven und Innovationen. Das heißt, wir bringen internationale Teams zusammen, und vereinen so verschiedene Perspektiven und Erfahrungen. Diese Diversität schafft die Möglichkeit, neue und bessere Lösungen für den Konzern zu finden. Wir stärken damit die Wettbewerbsfähigkeit auch auf dem europäischen Schienenmarkt.
Eine Herausforderung dabei ist die Sprach- und Kulturkompetenz der internationalen Kolleg*innen. Hierbei investiert die Deutsche Bahn in Sprachkurse – dazu gehört vor allem auch das Erlernen des Bahn-Vokabulars, vor allem die technischen Begrifflichkeiten. Neben den Mitarbeitenden unterstützen wir auch die Führungskräfte und bereiten sie darauf vor, ausländische Fachkräfte im Team willkommen zu heißen und zu integrieren. Nicht nur die Chancenkarte sondern das Fachkräfteeinwanderungsgesetz insgesamt vereinfachen die Einstellung von ausländischen Fachkräften. Wir begrüßen dies sehr. Wenn wir in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben wollen, ist das von großer Bedeutung für uns.
Michael Kadow: Was sind weitere Herausforderungen im Umgang mit ausländischen Fachkräften?
Claudia Dingethal: Weitere Herausforderungen sind die zeitliche Dauer der Prozesse und die Bürokratie: Visa-Anträge, die gestellt, Arbeitserlaubnisse, die erteilt werden müssen. Bei den administrativen Herausforderungen unterstützen wir die internationalen Fachkräfte, was durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz tatsächlich einfacher geworden ist. Aber gerade die Themen rund um die Anerkennung der im Heimatland erworbenen Qualifikationen ist in der Zukunft weiter zu verbessern. Für den weiteren Erfolg der DB und des Bahnsystems insgesamt, ist dies ein sehr wichtiger Weg.
Michael Kadow: Kommen wir von den ausländischen Mitarbeitenden zu den inländischen Beschäftigten, vor allem zu denjenigen, die mit einer langen Vita im Konzern arbeiten. Wie sorgen Sie dafür, dass die Arbeitskraft der älteren Beschäftigten erhalten bleibt?
Claudia Dingethal: Die langfristige Bindung hat hohe Priorität. Es ist wichtig, innovative und lebensphasenorientierte Angebote zur Verfügung zu stellen, um die Bedürfnisse der Erst-Einsteigenden, der Quer- oder Direkteinsteigenden und der bestehenden Mitarbeitenden abzudecken. Es beginnt mit dem Onboarding. Dies ist ein überaus wichtiges Bindungssystem. Denn: Der Einstieg beginnt nicht erst mit dem ersten Arbeitstag, sondern schon vorher. Ein gutes Preboarding erleichtert zum einen den Einstieg des neuen Mitarbeitenden und zum anderen profitiert auch das Team von der guten Vorbereitung der Neulinge. Wir bieten unseren Mitarbeitenden zielgruppenspezifische Aus-, Fort- und Weiterbildungen an, natürlich auch für ältere und erfahrene Beschäftigte. Und hier steht nicht nur die fachliche, sondern auch die persönliche Weiterentwicklung im Vordergrund. Mitarbeitende haben die Möglichkeit, bei der DB University Bachelor- und Masterabschlüsse zu absolvieren, oder sogar eine Promotionsförderung zu bekommen. Außerdem haben wir unsere Wertschätzungspakete, die Führungskräfte Mitarbeitenden überreichen können, zu Jubiläen, zu runden Geburtstagen oder zur Geburt. Erst vor kurzem habe ich zwei langjährigen Mitarbeitenden ihre Jubiläumsurkunde zum 50. Dienstjubiläum überreichen dürfen. Studien zeigen, dass vor allem den erfahrenen Mitarbeitenden die Anerkennung und die Wertschätzung des bestehenden Wissens sehr wichtig ist. Sie geben gerne ihr Wissen weiter. Das fördern wir, indem wir Patenschaften oder Mentoring-Programme aufsetzen. Gleichzeitig haben auch Reverse-Mentoring-Programme, bei denen die junge Generation ihr Wissen an die erfahrene Generation weitergibt.
Michael Kadow: Das zeigt, dass Arbeit sehr viel mehr ist. Sie ist soziale Integration und soziale Teilhabe.
Claudia Dingethal: Genau und das ist auch eine unserer Stärken im Konzern. Und es gibt bei der Deutschen Bahn immer die Möglichkeit, innerhalb des Konzerns zu wechseln und sich weiterzuentwickeln. Das zeigen auch die zwei Lebensläufe der Mitarbeitenden mit dem 50. Dienstjubiläum. Ihre Wege zeigen, welche Stationen sie bei der Deutschen Bahn absolviert haben und welche Professionen sie eingenommen haben. Und ich freue mich umso mehr, dass sie jetzt noch einmal einen Anschlussvertrag angenommen haben, um als Seniorexperten ihr Fachwissen weiterzugeben.
Michael Kadow: Aus meiner Erfahrung bei der Deutschen Bahn kann ich sagen, dass es bei der DB alle Arbeitsfelder gibt. Neben den klassischen Berufsfeldern des Lokführenden, des Rangierenden, des Weichenstellenden, gibt es auch Reinigungskräfte, Menschen, die im Kasino arbeiten …
Claudia Dingethal: … es gibt Förster*innen und Imker*innen.
Michael Kadow: Bei der Vielfalt an Berufsmöglichkeiten: Was sind bei der Deutschen Bahn klassische Jobs für Quereinsteiger?
Claudia Dingethal: Von den 25.000 Neueinsteigenden sind 3.000 bis 4.000 jährlich Quereinsteiger*innen. Die Top 5 Berufe für Quereinsteiger*innen sind Triebfahrzeugführende, Stellwerksdienste, Bordservice, Rangieren und Kundenbetreuung. Für die Menschen, die sich dazu entscheiden, im Quereinstieg zur Deutschen Bahn zu wechseln, ist dies häufig ein Kindheitstraum. Sie bekommen bei uns die Ausbildung, die sie benötigen, um tätig werden zu können. Sie durchlaufen entsprechende Qualifizierungen, die mehrere Wochen oder Monate dauern können. 85 Prozent der Quereinsteiger*innen erreichen auch die Abschlussprüfung, zum Beispiel zum Triebfahrzeugführenden. Die Ausbildungskosten werden von der DB übernommen.
Michael Kadow: Kommen wir noch auf die junge Generation zu sprechen. Welche Werkzeuge hat die DB, um für den Nachwuchs attraktiv zu sein?
Claudia Dingethal: Die DB hat bundesweit schon seit Jahren Schulkooperationen, die auch kontinuierlich ausgebaut werden. Das ist ein sehr wichtiger Kanal, um jungen Menschen im Konzern eine Berufsorientierung zu geben. Dafür gibt es Schulpat*innen und Botschafter*innen, die aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen. Ergänzt wird dies durch Schulpraktika, um in die verschiedenen Berufsfelder hineinschnuppern zu können. Für die Gewinnung von Auszubildenden hilft uns sicher auch, dass die DB ihren Mitarbeitenden eine verlässliche Perspektive bieten kann. Zum Beispiel haben wir eine Übernahmegarantie, für alle diejenigen, die erfolgreich ihren Abschluss machen und ansprechende Sozialleistungen. Mit der DB Youngster Community ermöglichen wir ein attraktives und zeitgemäßes Netzwerk für unsere Nachwuchskräfte. Hier geht es um Kennenlernen, Gemeinschaft und Unterstützung zusätzlich zur fachlichen Betreuung durch unsere engagierten Kolleg*innen.
Michael Kadow: Ich bedanke mich für das Gespräch.
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