Mobilität bedeutet häufig weit mehr als bloßes Unterwegssein: Sie kann eine Lebenseinstellung ausdrücken. In der Gegenüberstellung zweier ikonischer Figurentypen der populären Massenkultur – des Tramps und des Flaneurs – treten zwei oppositionelle Ausdrucksformen einer spezifischen Form der Individualmobilität, nämlich des Fußverkehrs, hervor. Eine kulturgeschichtliche Erkundung.

Einleitung

Mobilität ist nicht allein auf unser alltägliches Unterwegssein beschränkt. Sie erscheint immer wieder auch als Bestandteil narrativer und ästhetischer Medienstrategien: Ob in Literatur, Film, Theater oder Videospiel – Mobilität ist ein integraler Bestandteil unserer Kultur. Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel zweier populärer Figurentypen: des Tramps und des Flaneurs. Beide Mobilitätstypen haben medienkulturgeschichtlich große Aufmerksamkeit erfahren. Zugleich verstärken medienkulturelle Interpretationen die den realen Tramps und tatsächlichen Flaneuren zugrunde liegenden Eigenschaften.

Im Alltag werden sie jedoch häufig als Irritations- und Störmomente wahrgenommen. Doch liegt in diesem konfrontativen Element nicht auch ein einzigartiges Potenzial? Helfen uns die beiden Figuren nicht dabei, Mobilität besser zu verstehen? Und sorgt ihr sozialkritisches Auftreten nicht dafür, Missstände, Probleme und Ungerechtigkeiten unserer alltäglichen Fortbewegungsstrukturen offenzulegen?

Es gibt viele Gründe, diesen oft übersehenen Aspekt der individuellen Mobilitätskultur kulturgeschichtlich einmal genauer zu betrachten.

Der Flaneur

Der Flaneur oder Flanierende [1] stellt eine Person dar, die das meist planlose Spazierengehen auf besondere Weise genießt und kultiviert. Als prominente Mobilitätsfigur der modernen Großstadt, streift er träumerisch-reflektierend umher. In seiner Funktion als unproduktiver Müßiggänger wird er häufig als Antagonist und Störelement aufgenommen. Seine Blasiertheit und Dandyhaftigkeit lassen ihn aus der anonymen Masse der Großstadtspaziergänger herausragen.

Im Gegensatz zum gewöhnlichen Spaziergänger gelingt es dem Flaneur, seine Individualität sichtbar werden zu lassen. Als „zentrale Figur der Moderne“ [2] tritt er zudem als eine Art Stadt-Entzifferer auf, der durch die Straßen zieht und die urbane Umgebung aufmerksam betrachtet. Gleichzeitig wird er selbst zu einem prägenden Bestandteil des Stadtbilds: Dieser urbane Wanderer nimmt somit eine ästhetische Rolle ein.

Der Flaneur. Hier in der Darstellung von Paul Garvin: Le Flâneur, 1842.
Bild: Wikipedia

Wesentlich für das Verständnis des Flaneurs sind auch seine politischen und gesellschaftskritischen Funktionen, auf die unter anderem Walter Benjamin hinweist. Mit seinen dandyhaften und müßiggängerischen Zügen demonstriere er gewissermaßen gegen die moderne Arbeitsteilung und trete als kritischer Beobachter kapitalistischer Marktgesetze auf: „Der Flaneur ist Beobachter des Marktes. […] Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalismus. […] Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.“ [3] In dieser Rolle erscheint er häufig auch als intermedial operierende Figur in (populären) Kulturwerken.

Zugleich tritt der Flaneur als beliebte Denkfigur Intellektueller in der Literatur auf. Edgar Allan Poe lässt ihn in seiner Erzählung Der Mann in der Menge (1840) als anonyme Gestalt auftreten, die von der Großstadt absorbiert wird. Auch in Peter Handkes Das Gewicht der Welt (1977), das Tagebuchaufzeichnungen eines reisenden Flaneurs enthält, spielt er eine prägnante Rolle. Ebenso findet sich eine postmoderne Interpretation des ziellos Umherschweifenden in Christian Krachts Faserland (1995). Der dort dargestellte Flaneur bewegt sich ziellos durch labyrinthisch anmutende Großstädte, bleibt identitätslos und verschwimmt in der anonymen Masse.

Auch in der Malerei fand die Figur des Flaneurs Niederschlag. Eine der bekanntesten Flaneur-Darstellungen der Kunst findet sich bei beim impressionistischen Maler Edgar Degas: Place de la Concorde (1875). Bild: Wikipedia

Besondere Wirkung entfaltete die Figur des Flaneurs im Film. Dieses Medium bietet sich aufgrund seiner Montagetechniken besonders dafür an, den Rhythmus einer Großstadt dramaturgisch nachzubilden und damit den Flaneur als dessen ästhetisches Gegengewicht zu inszenieren. [4] Insbesondere der Einsatz der sogenannten beschleunigten Montage, bei der die Abfolge der Bilder immer schneller wird, bildet das Zeit-Raum-Gefühl einer modernen Großstadt sinnbildlich ab. [5]

Innerhalb dieser großstädtischen Erfahrungsräume tritt der Flaneur entsprechend als Störelement auf. Seine Ziellosigkeit und Langsamkeit stehen im Kontrast zur typischen Hektik von Großstädten. Sinnbildlich stehen dafür die in aller Beharrlichkeit und Melancholie umherschweifenden Engel in Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin (D 1987). Sie gehen reflektierend und staunend durch die Straßen und beobachten die Menschen, während sie über den Sinn des Augenblicks und über die menschliche Existenz nachdenken.

Modernere Flaneur-Darstellungen, wie sie beispielsweise Woody Allen in MIDNIGHT IN PARIS (USA 2011) präsentiert, stellen die verträumten Züge des Flanierenden hervor. Der Film erzählt von dem Drehbuchautor Gil Pender (Owen Wilson), der auf der Suche nach Inspiration durch das nächtliche Paris flaniert und schließlich per Zeitreise ins Frankreich der 1920er Jahre gelangt.

Als eine Art filmischer Großstadtdrifter besucht Jem Cohen in Counting (USA 2015) zahlreiche Städte, um ein lebendiges und vielschichtiges Porträt gegenwärtigen urbanen Lebens zu schaffen – so, wie er es vor Ort wahrnimmt. In seinem Dokumentarfilm, in dem er selbst als Flanierender mit der Kamera auftritt, versammelt er Alltags- und Straßenszenen, Aufnahmen von Menschen und Tieren sowie Darstellungen großstädtischer Architektur. Auf diese Weise entsteht eine persönliche Reflexion über das Verborgene in Städten: „Jem Cohen ist Flaneur und Straßenarbeiter zugleich, sein Film ein Archiv seiner Schritte – ein Lagerraum voll traumhafter Erinnerungen.“ [6]

Flanieren als Inspirationssuche: Owen Wilsons Verkörperung eines zeitgenössischen Flaneurs in Woody Allens MIDNIGHT IN PARIS. Bild: Wikipedia

Nicht nur Allens und Cohens Versionen des Flaneurs belegen: Der urbane Wanderer ist aus der gegenwärtigen Medienkultur nicht wegzudenken. Das zeigt auch eine 2018 im Kunstmuseum Bonn veranstaltete Videoausstellung, die den Flaneur in seinen vielfältigen Facetten präsentierte. [7] Doch bleibt es nicht bei der reinen Darstellung seiner kulturhistorischen Erscheinungsformen – der Flaneur als medienkultureller Figurentypus wird kontinuierlich weiterentwickelt.

In Gestalt des digitalen Flaneurs wird die Figur in den Kontext neuer kommunikativer Technologien gesetzt. [8] Der digitale Flaneur entstand im Zuge der Internetentwicklung und bezeichnet eine Person, die im Netz versinkt und aufgrund der Fülle an Vernetzungen und Hyperlinks von einem Inhalt zum nächsten springt. Ähnlich fungiert die Denkfigur des Phoneurs – eine Verbindung aus Flaneur und Phonist – als flanierende Person, die sich mithilfe mobiler Technologien durch den Stadtraum bewegt. Der Phoneur greift aktiv auf das Informationsnetz der Stadt zu (virulente Datennetze, virtuelle Räume) und erweitert damit den Funktionsraum des klassischen Flaneurs.

Der neueste Typ des Flaneurs bildet sich derzeit im Videospiel heraus. [9] In Walking- Simulatoren und Open-World-Spielen streifen Spielerinnen und Spieler mit ihren Avataren zunehmend ziellos umher oder bestaunen die virtuellen Landschaften. Moderne Game-Engines erschaffen dabei nahezu lebensecht wirkende Szenarien, in die Spieler immersiv eintauchen. Die eigentlichen Spielziele treten dabei immer stärker in den Hintergrund – das Flanieren wird auch hier zum Selbstzweck.

Der digitale Flaneur: In modernen Videospielen verbringen viele Spielerinnen und Spieler ihre Zeit damit, durch die virtuellen Welten ohne ersichtliches Ziel zu streifen. Hier im Bild: Das Abenteuerspiel SHENMUE 2, in der man als Spieler die Hauptfigur Ryo Hazuki durch ein virtuelles Hongkong begleitet. Bild: Offizielles Pressefoto aus der Pressemappe (SEGA Inc.)

Der Tramp

Der Wortherkunft nach ist der Tramp ein Vagabund oder Landstreicher, ein umherziehender Gelegenheitsarbeiter, der vor allem in Nordamerika beheimatet ist. Der Tramp versteht sich – im Gegensatz zum Flaneur, der sich meist auf einen urbanen Ort konzentriert – auf das Wandern („to tramp“ bedeutet so viel wie wandern). Die Figur taucht in England bereits in den 1660er-Jahren auf und wird dort als dauerhaft wandernde Person bezeichnet. [10] Seit dem 18. Jahrhundert wird dem Tramp die Eigenschaft eines „langen, mühsamen Fußmarsches“ zugeschrieben. [10]

In Deutschland entwickelte sich der Begriff Tramp seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine andere Richtung: Das Trampen wurde in seiner ursprünglichen Bedeutung des Wanderns um die Komponente der Bitte um eine Mitfahrgelegenheit erweitert – trampen meint danach „beim Wandern ein Auto anhalten und um Mitfahrt bitten“ [11], d. h. per Anhalter bzw. per Autostopp reisen. Im Englischen wird hierfür jedoch eher die Bezeichnung hitchhiking verwendet. [12]

Russel-Morgan-Druck eines Landstreichers, der mit einem Stock über dem Arm eine Zigarre raucht (1899). Bild: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington

Der Tramp ist stets auf der Suche nach Gelegenheitsjobs und bleibt nicht an einen festen Ort gebunden. Mit seiner Wurzellosigkeit gehen ein ausgeprägter Freiheitsdrang und Idealismus einher: „Im Gegensatz zu der verwandten Figur des Hobo ist der Tramp so definiert worden, dass er nicht wie jener wandert und arbeitet, sondern dass er wandert und träumt.“ [13]

In der Kulturszene tritt der Tramp erstmals im US-amerikanischen Vaudeville in Gestalt des zu seiner Zeit äußerst populären Schauspielers Nat M. Wills auf. [14] In der Folge erscheint die Figur auch erstmals literarisch, etwa im Werk Jack Londons [15] oder William Henry Davies’ [16]. Von Letzterem übernahm die Rockband Supertramp auch ihren Bandnamen.

Zu ihrem kulturellen Durchbruch gelangt die Figur des Tramps jedoch erst durch die Verkörperung der Comedy-Legende Charlie Chaplin. Er erfand die Figur, die er in zahlreichen Filmen selbst darstellte. Zu Beginn agierte der Tramp noch schurkisch, also von allen ethischen Bindungen gelöst, entwickelte im Laufe seines Auftretens jedoch zunehmend romantisch-humanitäre Charakterzüge – blieb dabei aber stets ein Opfer des ihn umgebenden Sozialsystems. [17]

Eine Fotografie des Schauspielers Nat M. Wills in seiner Rolle als Tramp. Bild: The New York Public Library. „Nat Wills“ Billy Rose Theatre Division

In der Stummfilmkomödie THE TRAMP aus dem Jahr 1915 geht es um einen Landstreicher, der ein Mädchen vor drei Räubern beschützt. Zum Dank bietet ihr Vater dem Protagonisten Arbeit auf dessen Farm an. Es kommt zu einer Reihe komischer und dramatischer Situationen, an deren Ende der Tramp die Farm aus enttäuschter Liebe wieder verlässt. In diesem Film fließen bereits alle für die Figur des Tramps charakteristischen Züge zusammen.

Neu an Chaplins Interpretation war die sentimentale und zerbrechliche Seite, die er der Figur hinzufügte und die das damalige Publikum vollkommen überraschte. Die tragischen Untertöne gaben der zuvor rein „komischen Figur“ neue Tiefe. Ikonisch dabei: Erstmals wurde in THE TRAMP die für Chaplin typische Abblende mit einer Irisblende am Ende des Films eingesetzt. Zu sehen ist der mit den Schultern zuckende Tramp, der – trotz aller Enttäuschungen, die er durchlebte – seinen Spazierstock munter in die Luft wirft und weiterzieht, seinem nächsten Abenteuer entgegen.

Ikonische Filmfigur: Charlie Chaplin verkörperte seit 1915 den Tramp. Hier in einer Portraitdarstellung zwischen 1917 und 1918. Bild: Wikipedia

Nach dem enormen Erfolg von Charlie Chaplins Alter Ego verläuft sich dessen Spur innerhalb der Kultur allmählich. Vereinzelte Auftritte trampähnlicher Figuren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Zwischenzeit ein grundlegender Kulturwandel stattfand, der die Figur soziokulturell an den Rand drückte. Vereinzelte Züge des Tramps finden sich in der Sozialfigur des Hitchhikers, des Saisonarbeiters und der Work-and-Travel-Vorstellung junger Erwachsener.

 

Der Tramp und der Flaneur als Störelemente der modernen Mobilität

Die Gegenüberstellung von Flaneur und Tramp macht eines deutlich: Beide Typen bzw. ihre kulturellen Interpretationen tragen in besonderer Weise eine sozialkritische Komponente in sich. In beiden Fällen handelt es sich um Darstellungen von Misfits, also gesellschaftlichen Außenseitern, die hinsichtlich der Alltagsmobilität gegen den Strom schwimmen und ihre individuellen Befindlichkeiten in den Vordergrund stellen. Beide Figuren sind hochgradig unproduktiv. Gerade der Flaneur nutzt die Fußgängerzone als Laufsteg, auf dem er seine Blasiertheit und Eigensinnigkeit offen zur Schau stellt. Die medienkulturellen Darstellungen beider Figurentypen haben diese Charakteristika im Laufe der Mediengeschichte plastisch ausgeformt und so das Bild oppositioneller Mobilitätstypen geprägt, das wir heute von ihnen haben.

Doch noch etwas anderes fasziniert an den beiden Figuren: Durch ihre Andersartigkeit – beim Flaneur die kontemplative Gangart, beim Tramp das sprunghafte Umherziehen – erlauben sie dem Zuschauer einen Blick auf Umwelt und Mobilität wie durch eine andere Brille. Beide fungieren als Störfaktoren im Getriebe der Alltagsmobilität und irritieren, jeweils auf ihre Weise, Abläufe und Erscheinungsformen des Straßen- und Nahverkehrs.

Insbesondere der Flaneur lässt uns durch seine entschleunigte Wahrnehmung und seine reflektierende Beobachtung der Umwelt Mobilität und städtische Umgebung neu betrachten. Das Unproduktive und Müßiggängerische stört das funktionale Gesamtbild gewohnter Mobilitätsabläufe: Die Funktionalität aller Mobilitätsformen wird durch die bewusst gelebte Dysfunktionalität infrage gestellt. In gewisser Weise eröffnen Flaneur und Tramp ‚Parallelpfade der Mobilität‘, indem sie ihrem je eigenen Rhythmus und ihrer je eigenen Logik des Unterwegsseins folgen.

Gleichzeitig sind beide Figuren essenzieller Bestandteil unseres mobilitätsbezogenen Alltags. Dazu trägt auch ihre prominente Stellung in der Medienkultur wesentlich bei: Flaneur und Tramp sind längst zu ikonischen Figuren geworden, die wir aus Literatur, Film, Fernsehen und anderen Medien kennen. Ob die flanierenden Engel in DER HIMMEL ÜBER BERLIN (D 1987) oder Chaplins Tramp – die Tropen beider Figuren sind kulturell so präsent, dass sie unsere Wahrnehmung alltäglicher Mobilität durchbrechen und erweitern.

Flaneure und Tramps sind Zaungäste unserer aller Alltagsabläufe. Häufig irritieren sie durch ihre Attitüde oder ihr Erscheinungsbild; ihre medienkulturellen Interpretationen betonen diese Eigenschaften zusätzlich. Dadurch lenken sie unseren Blick zurück auf uns selbst – auf unseren Alltag, unseren sozialen Status und unsere gewohnten Formen der Fortbewegung. Letztlich dienen sie als differenzlogisches Ventil: Sie zeigen alternative Sichtweisen auf das „Normale“ und erweitern unseren Horizont im Hinblick auf reale Mobilitätsbezüge. Tramp und Flaneur verkörpern das bewusst „Andere“ im alltäglichen Verkehr – sie durchbrechen Rhythmus und Erscheinungsbild von Fuß- und Straßenverkehr und erinnern uns daran, dass es nicht die „eine richtige“ Form der Fortbewegung gibt.