„Radvermietsysteme spielen eine zunehmend wichtige Rolle in urbanen Gebieten“ – Interview mit Prof. Matthias Kowald von der Hochschule RheinMain
Öffentliche Fahrradvermietsysteme (ÖFVS) sind keine neue Erfindung, vielmehr werden sie seit Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut und weiterentwickelt. Immer mehr ÖFVS-Anbieter bringen ihre Dienstleistungen in den Markt ein, auch in Deutschland. Diese Entwicklungen führen dazu, dass das Sharing-Angebot immer stärker als Teil einer inter- oder multimodalen Wegekette angesehen wird – in Städten und städtischen Gemeinden im In- und Ausland.
Umso erstaunlicher ist es, dass Planung und Aufbau neuer ÖFVS-Standorte bislang kaum strategisch erfolgt und über deren Auswirkungen auf den städtischen Verkehr bislang wenig geforscht wurde. Ebenso fehlen Daten über die Entscheidungsgründe für die Nutzung der Leihräder in verschiedenen Situationen. Hier setzt das Forschungsprojekt „RadEffekt – Routenwahl und Emissionsreduktionspotenziale von Radvermietsystemen“ an, das von Mai 2021 bis April 2022 im Rahmen der Innovationsförderung der House of Logistics and Mobility (HOLM) GmbH gefördert wurde. Über das Projekt und die daraus resultierenden Erkenntnisse haben wir mit Prof. Dr. Matthias Kowald, Professor für Mobilitätsmanagement und Mobilitätsverhalten an der Hochschule RheinMain, gesprochen.
HOLM-Blog: Öffentliche Fahrradvermietsysteme (ÖFVS) sind bereits in vielen Städten verfügbar. Deren Aufbau wird i.d.R. auf Basis von Best-Practice-Beispielen geplant. Sie sind im Zuge Ihres Forschungsprojekts nun unter anderem der Frage nachgegangen, wie Potenziale einer ÖFVS-Einführung an einem neuen Standort analysiert werden können. Warum ist die durchgeführte Arbeit von Bedeutung?
Matthias Kowald: Verkehrsplanerische Empfehlungen zum Auf- und Ausbau von Radvermietsystemen basieren im deutschsprachigen Raum tatsächlich oft auf Erkenntnissen aus Best-Practice-Beispielen. Empirische Studien dagegen gibt es nur in stark begrenztem Umfang. Zudem fokussieren sich diese Arbeiten auf Zusammenhänge zwischen wenigen ausgewählten Merkmalen. Ein Beispiel ist die Mietradnutzung nach Geschlecht. Unser Ziel ist es, die Mietradnutzung durch multiple Einflussfaktoren zu erklären und diese im Vergleich zu verkehrlichen Alternativen wie Auto (MIV) und öffentliche Verkehrsmittel (ÖV) zu betrachten. Dazu haben wir mit Expert*innen und auf Basis einer Literaturrecherche die entscheidungsrelevanten Attribute zusammengetragen, die diese verkehrlichen Alternativen beschreiben. Diese Attribute werden dann im Fragebogen und in Abhängigkeit von einer tatsächlichen Mietradfahrt kontrolliert variiert, woraus sich immer neue hypothetische Entscheidungssituationen ergeben.
Die sich daraus ergebenden Entscheidungssituationen haben wir in einer Bevölkerungsbefragung verwendet und jeder teilnehmenden Person eine Auswahl zur Abwägung vorgelegt. Die nachfolgende Abbildung zeigt ein Beispiel für eine solche Entscheidungssituation.
Aus den Antworten können wir statistische Entscheidungsmodelle schätzen, welche die Konkurrenz der berücksichtigten Verkehrsmittel untereinander ausweisen und Effekte aus der Ausgestaltung dieser Verkehrsmittel, Effekte der Entscheidungssituation und Effekte der Entscheidungsträger*in in die Erklärung einbeziehen können. Damit stellt unsere Forschung einen wichtigen nächsten Schritt zum Verständnis der Nutzendendynamik in Bezug auf Radvermietsysteme dar.
HOLM-Blog: Was beeinflusst die Entscheidung für die Nutzung von ÖFVS? Konnten Sie Unterschiede zwischen verschiedenen Nutzergruppen in Bezug auf die Verkehrsmittel- und Routenwahl feststellen?
Matthias Kowald: Unsere Analysen dauern an, da die Phase der Datensammlung aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie deutlich länger gedauert hat als ursprünglich geplant. Aufgrund der bisher durchgeführten Arbeiten können wir aber sagen, dass:
- für jedes der berücksichtigten Verkehrsmittel zeitliche Komponenten wie Reisezeit und die Zu- und Abgangszeit negativ bewertet werden, wobei letztere einen stärkeren negativen Effekt haben als die Reisezeit;
- monetäre Kosten für Radmiete, Treibstoff, Parken und ÖV-Tickets negativ bewertet werden. Steigende Kosten führen also zu einer generellen Abnahme der Nutzung eines Verkehrsmittels. Interessant zu sehen ist, dass für eine zurückgelegte Strecke jeder ausgegebene Euro für die Radmiete und die ÖV-Tickets einen stärkeren negativen Effekt hat als für die Treibstoffkosten für ein Auto. Monetäre Kosten sind also eine wichtige Drehschraube für eine nachhaltigere Mobilität;
- eine steigende Auslastung im ÖV zu einer sinkenden Attraktivität der entsprechenden Verkehrsmittel führt;
- im Bereich der ÖFVS in städtischen Gebieten das Fahren auf einem Radweg den Hauptstraßen und den Nebenstraßen vorgezogen wird. Dies spricht also für den Ausbau der radbezogenen Infrastruktur.
- Die Präferenzunterschiede zwischen den Alternativen ÖFVS, Auto und ÖV auf die Entscheidungsträger*innen und die Situation zurückzuführen sind. Frauen bevorzugen das Auto gegenüber dem Mietrad, dieses aber gegenüber dem ÖV. Jüngere Personen finden das Mietrad im Vergleich zu den Alternativen Auto und ÖV attraktiver. Mit steigendem Alter werden aber gerade eher diese dem Mietrad vorgezogen. Personen, denen ein Auto jederzeit zur Verfügung steht, ziehen dieses Verkehrsmittel dem Mietrad vor, genauso wie Personen mit einem ÖV-Abonnement den ÖV vorziehen. In größeren Städten wird das Mietrad dem Auto vorgezogen. Dies liegt vermutlich unter anderem an der größeren Dichte der ÖFVS-Stationen.
HOLM-Blog: RadEffekt ist eine Fallstudie des ÖFVS-Angebots VRNnextbike. Welche Gründe gab es für diesen konkreten Forschungsgegenstand und inwieweit sind die Ergebnisse der Nutzerbefragungen und die Datenauswertungen sowie die daraus resultierenden Verkehrsnachfragemodelle auch auf andere Städte und Angebote übertragbar?
Matthias Kowald: Das Projekt lässt sich in zwei Teile gliedern: Der erste Teil besteht aus der Sammlung von nutzungsrelevanten Informationen und Entscheidungen zu den Mieträdern des ÖFVS VRNnextbike. Dieses große und zusammenhängende Mietradsystem umfasst vier Groß- sowie 16 Mittelstädte und kleinere Gemeinden und deckt damit städtische und ländliche Gebiete sowie Regionen mit unterschiedlichen topographischen Ausprägungen ab. Die Stichprobe besteht aus Mietradnutzenden, die elektronisch im Anschluss an eine reale Mietradnutzung rekrutiert wurden, und einer Zufallsstichrobe aus Mietradnichtnutzenden, die telefonisch rekrutiert wurden. Vergleiche zwischen den Merkmalsverteilungen in der Stichprobe und den Grundgesamtheiten deuten auf eine gute Repräsentativität hin. Die räumliche Vielfalt des Untersuchungsraumes und die gute soziodemographische Abdeckung der Grundgesamtheit durch die Stichprobe erlauben statistische Verallgemeinerungen und die Übertragung der Resultate auf andere Regionen.
Der zweite Teil des Projekts besteht in der Implementierung der Resultate im Verkehrsnachfragemodell Heidelberg. Dieser Teil der Studie trägt den Charakter einer Pilotstudie und gibt ein Beispiel für eine niederschwellige Berücksichtigung von Mieträdern in einem bestehenden Verkehrsnachfragemodell. Je nach Analyseanliegen und angestrebter Analysetiefe sind auch aufwendigere Verfahren bis hin zur Implementierung eines zusätzlichen und eigenständigen Verkehrsmodus „Radvermietsystem“ möglich.
Die empirischen Daten und die auf dieser Basis geschätzte Verhaltensparameter aus Projektteil 1 sind grundsätzlich auch für derart aufwendigere Verfahren geeignet.
HOLM-Blog: Das Projekt wurde von Mai 2021 bis April 2022 durchgeführt und fiel damit in die Hochzeit der Corona-Pandemie. Wie hat dieser Umstand die Ergebnisse des Projekts beeinflusst?
Matthias Kowald: Zunächst möchten wir uns bei allen Personen, die an der Befragung teilgenommen haben, ausdrücklich bedanken. Wir haben in diesem und anderen Projekten feststellen müssen, dass die Teilnahmebereitschaft an wissenschaftlichen Umfragen in der Pandemie abgenommen hat. Was der genaue Grund für diesen Rückgang war, lässt sich auf Basis unserer Daten nicht untersuchen.
Auf Seiten der Verkehrsnachfrage hat das untersuchte Mietradsystem einen Nutzungsrückgang in den Corona-bedingten Lockdown-Phasen erlebt. Insgesamt hat sich das ÖFVS aber sehr schnell von den Corona-Auswirkungen erholt und konnte für das dritte und vierte Quartal 2021 eine Steigerung der Ausleihzahlen im Vergleich zu allen vorangehenden Geschäftsjahren seit 2015 ausweisen. Da wir die Feldarbeit genau in diesen Quartalen durchgeführt haben, sind die Ergebnisse nicht oder nur gering von harten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie betroffen.
HOLM-Blog: Welche Bedeutung werden öffentliche Fahrradverleihsysteme Ihrer Meinung nach in Zukunft haben? Erwarten Sie Verlagerungseffekte zum Verkehrsträger Fahrrad durch öffentliche Leihangebote und wenn ja, wovon sind diese abhängig?
Matthias Kowald: Radvermietsysteme spielen eine zunehmend wichtige Rolle in urbanen Gebieten und in intermodalen Wegen, in deren Verlauf also das Verkehrsmittel gewechselt wird. Insgesamt nutzt bisher aber nur ein Bruchteil der Bevölkerung Radvermietsysteme. Dass derartige Räder und andere Mikromobilitätsangebote im städtischen Verkehr konkurrenzfähig sind, zeigen unsere Analysen. Sie zeigen aber auch, dass Verlagerungseffekte vor allem zwischen dem ÖV und den Radvermietsystemen auftreten. Darin liegt die zentrale Nachricht: Solange Autofahren in deutschen Städten als vergleichsweise günstig und angenehm wahrgenommen wird, gibt es aus Sicht der Verkehrsnachfrage gute Gründe, den (privaten) Pkw den anderen Verkehrsmitteln vorzuziehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Ergebnisse des Projekts wurden teilweise bereits veröffentlicht und sind „open access“ verfügbar:
Kowald, M., Gutjar, M., Röth, K., Schiller, C., & Dannewald, T. (2022). Mode Choice Effects on Bike Sharing Systems. Applied Sciences, 12(9), 4391.
Vorgestellt wird das Projekt auch im Rahmen des 7. HOLM-Innovationsmarktplatzes, der am 6. September 2022 als hybrides Format stattfinden wird.